Vor ein paar Tagen habe ich mit einer alten Bekannten telefoniert, mit der ich gemeinsam zur Grundschule gegangen bin. Im Laufe des Gesprächs stellten wir fest, dass die Mehrheit der Leute, die wir beide kennen, in Therapie war oder ist. Depressionen, Borderline, psychophysische Erschöpfungszustände, CFS, alles dabei. „Was ist nur mit uns los? Warum sind wir alle so gestört?“, fragte sie. Ihre Erklärung für die psychische Konstitution unserer Generation war die drogensatte Ravezeit. Ich glaube, man sollte das Ganze nicht so hoch hängen. Heute geht man zur Therapie, früher überfiel man fremde Länder. Aber eine Theorie zu unserem Zustand habe ich schon. Geistig Gesunde ab hier bitte nicht weiterlesen.
Im Nachtstudio sagte kürzlich jemand (ich bin jetzt zu faul, um seinen Namen zu googlen, er sitzt da jedenfalls immer als Vertreter der Konservativen, im Gegensatz zu Eva Herman lebt er sogar danach, seine Frau ist an Küche und Kinder gefesselt) unsere Gesellschaft habe die männlichen Tugenden vernachlässigt: Ehre, Stolz, Gewalt zur Verteidigung unserer Werte.
Weiblich und männlich waren im Rahmen der Sendung übrigens bildhaft zu verstehen, die Zuschreibung männlich bedeutet also nicht, dass diese Tugenden nur von Männern ausgefüllt werden sollten, der Befürworter von Ehre, Stolz und Gewalt betonte ausdrücklich, dass er hinter Frau Merkel stehe. Ich werde diese Begriffe im Folgenden auch so verwenden.
Wenn das die Tugenden der Männlichkeit sind, stehe ich wiederum eindeutig hinter der feminisierten Gesellschaft.
Der weibliche Umgang mit Verletzungen ist ein anderer als der männliche. Wenn man sich zwei idealtypische Geschlechtsvertreter vorstellt, die dieselbe Kindheit durchlaufen, sagen wir: keine Liebe von den Eltern, Bevorzugung der anderen Geschwister, Außenseiter in der Schule, weil alte Kleidung aufgetragen werden muss, obwohl Geld da ist, eine Kindheit mit all den kleinen Dramen, die sich so abspielen können; dann ist die männliche Reaktion entweder ein Einstieg in die Gewaltkriminalität, er wird NPD-Kader oder er plant einen Amoklauf mit Armbrüsten (seltsamer Plural), die weibliche Lösung besteht in Anorexie, Depression und Selbstverletzung.
Jetzt könnte man in Abwandlung der neoliberalen Formel „Wenn jeder für sich selber sorgt, ist für jeden gesorgt“ einwenden: Wenn jeder sich selbst verletzt, dann ist auch Krieg.
Aber es ist deutlich, dass auf dem weiblichen Weg weniger Opfer zu beklagen sind.
Noch ein Pluspunkt der Feminisierung ist die zunehmende Gewaltfreiheit in der Erziehung. Meine beiden Eltern sind nicht nur von ihren Vätern, sondern auch in der Schule regelmäßig verprügelt worden. Nicht einen Klaps bekommen, oder was es da noch an Euphemismen gibt: Verprügelt. Und in der Schule nicht von Mitschülern, sondern von den Lehrern. Es wäre natürlich zu simpel zu sagen: Mein verprügelter Vater hat im Krieg auf Menschen geschossen, während sein mit sanfter Hand großgezogener Sohn versucht, seine Träume mit Hilfe von Freud zu deuten.
Aber doch muss man feststellen: Es gab noch nie eine so friedliche Generation wie unsere. Und auf einmal werden die Gesetze so streng, als wären wir alle tobsüchtig. Anstatt die Ursachen der weitgehenden Gewaltlosigkeit zu erforschen und diesen Weg zu weiter zu beschreiten, wird mit Gewalt versucht, die Gewalt vollständig zu eliminieren. Sind Schäuble, Schily, Merkel und George W. Bush die letzten Männer? Und können wir sanften Mädchen sie aufhalten? Durch Tränen? Nein, durch Tränen nicht. Aber durch weibliche Vernunft.