Die 5-Minuten-Strecke dauert eine halbe Stunde, weil ich die Fähigkeit eingebüßt habe, links abzubiegen. Ich fahre so lange, bis ich etwas wiedererkenne.
Natürlich finde ich zunächst keinen Parkplatz, alle Lücken sind zu klein und zurren sich in meinem LSD-getrübten Blick noch mehr zusammen. Schließlich stelle ich den Wagen unter ein Parkverbotsschild. Ich muss so weit gehen, dass ich den Wagen auch hätte stehen lassen können. Don’t drug and drive.
Auf dem Bürgersteig hüpft ein Rabe vor mir weg. Ich erinnere mich an meine Deutschlehrerin Frau Morgengrauen, die mir für eine Analyse von Homo Faber eine Vier gegeben hat, weil ich in der Gegend herumstehende Raben nicht als Hinweis auf den Tod des Mädchens gedeutet habe. Das Mädchen starb 200 Seiten später. Ich habe das immer gehasst am Deutschunterricht: Warum soll der Autor nicht eine Landschaft beschreiben, in der nun einmal zufällig Raben enthalten sind?
Überhaupt Analyse: Ich sitze 150 Jahre nachdem ein hungerleidender Schreiber eine Auftragsarbeit übernächtigt zusammengeschmiert hat in einem nach Kreide und Angstschweiß riechenden Klassenzimmer und muss erklären, warum er Gefühl auf Gewühl gereimt hat. Weil ihm nichts besseres einfiel, weil er müde war und das Kind gequengelt hat und die Hämorrhoiden juckten und weil er sich nicht vorstellen konnte, dass den Scheiß, den er da in seiner kaum leserlichen Klaue zu Papier bringt, jemals jemand lesen wird. Honorar kassieren, Text vergessen, das dachte er sich vermutlich.
Dieser Gedankengang war der erste klare, seitdem ich den ersten Pilz verspeist hatte. Ich schaue in den Außenspiegel eines Nissan Micra. Meine Pupillen sind immer noch groß wie die von Mickey Mouse. Ein junger Mann, der – Synapsenstreich oder Zufall? – genauso aussieht wie ich vor acht Jahren, verscheucht mich von seinem Wagen.
Ratlos stolpere ich von ihm weg, drehe mich noch einmal um, aber er sitzt schon im Micra und ich kann ihn nicht mehr genau genug erkennen. Doppelgängersichtung ist ein sicheres Anzeichen für einen bevorstehenden epileptischen Anfall. Der käme mir jetzt gerade recht.
Dann müsste Greta. Dann würde Greta doch. Dann hätte Greta doch die verdammte Pflicht. Lieben müsste sie mich zuckendes Häuflein Elend dann bis an das Ende ihrer Tage. Bis an das Ende überhaupt aller Tage würde ich dann krampfgeplagt neben meiner sonnenweichen Greta aufwachen, in ihr warmes Gesicht schauen und dankbar sein und glücklich und einen sattgelben Strahl in meine Pampers pinkeln.
Ich stehe ein paar Minuten einfach so auf dem Gehweg und bin froh in einer Stadt zu leben, in der Irre nicht auffallen. Ich atme vorsichtig und möglichst regelmäßig, immer auch mit dem Bauch, ich bin mein eigener Yoga-Kurs.
Endlich fühle ich mich bereit weiterzugehen und stehe kurz darauf vor dem Haus, in dem Jakob wohnt. Auf dem Klingelschild steht J., M. und P. Frentz. Ich drücke die Klingel und um garantiert gehört zu werden und nebenbei ebenso garantiert völlig wahnsinnig zu wirken, drücke ich sofort nochmal. Ich schwitze und dampfe, der Türöffner surrt nervensprengend lange nicht, ich klingele dringlicher und dann noch einmal. Je sonne. Personne. Je resonne. Re-Personne. Ich summe diese Nabokov-Zeile bis sie in den beruhigenden Klang des Öffners, der ja immerhin Nachtruhe und Tröstung verheißt, übergeht.
“Ich habe das immer gehasst am Deutschunterricht: Warum soll der Autor nicht eine Landschaft beschreiben, in der nun einmal zufällig Raben enthalten sind?”
Und genau aus diesem Grund habe ich Deutsch damals abgewählt. Eine vorgehende Armbanduhr, die ein Symbol für die Todessehnsucht des Protagonisten sein soll? Bullshit! Eine Figur hat Kopfschmerzen, was man auf die damaligen Lebensumstände des Autors projiziert als dessen Hilferuf auffassen muss? Einfach nur Quark. Eine Geschichte muss man lesen und verstehen können, indem man sie einfach nur liest. Sonst ist es keine Geschichte, sondern unverständliches Gebrabbel.
Worum gehts eigentlich in dem restlichen Text? Nimmst du dich jetzt selbst auf die Schippe, steht der Nissen Micra womöglich als Symbol für dein Gefühl des Kleinseins in dieser großen Stadt, ertragbar nur durch Drogenkonsum?
Du bist nicht nur dein eigener Yoga-Kurs!
Ich und bestimmt auch viele andere kommen wegen dieser Zeilen ein bisschen besser durch den Tag. Thank you for the music!
Hermeneutischer Humbug. Kaum eine albernere Frage als: “Was will uns der Künstler damit sagen?” Wichtig ist doch: “Was kommt bei mir an?”
Was hattest Du denn für beschissene Deutschleher?
Ansonsten: Großartig! Kompliment!
ich hab meiner deutschlehrerin damals gesagt, dass sie homo faber als frau nicht verstehen könne. hatte mir aber auch vorher die isbn-nummer ihrer lehrhilfen abgeschrieben und war damit dann doch letztendlich sehr interpretationssicher.
@nico
hast du NICHT!
@Schnitzel
über die wendung habe ich übrigens sehr gelacht:)
@Malte: Ich grübel jetzt seit gestern darüber nach was es mit ‘J., M. und P. Frentz’ auf sich hat. Steht ‘Frentz’ vielleicht lautmalerisch für ‘Friends’, also die dort wohnenden Freunde? Und wie geht die Geschichte weiter, wie ist sie überhaupt soweit gekommen? Diese Worte haben bei mir auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das hört sich nach einem Lob an. Ist es auch.
@Malte: Hab ich wohl. Und die Interpretationshilfen kann ich dir auch ausleihen, wenn du mal richtig was über ödipus- und todesmotive lernen willst. war wenn ich mich recht erinner von diesterweg. auch ein grund warum ich mathe und nicht deutsch abgewählt habe. besser konnte man sich auf klausuren gar nicht vorbereiten.
@Schnitzel
Mein Schuldirektor hieß Frentz und an den habe ich gedacht, weil ich vorher über die Schule geschrieben habe.
DANN ist mir aufgefallen, dass das ja hübsch passt wegen Friends.
Ich mag diese Story. Den Steppenwolf würde ich gerne mal von Dir interpretiert bekommen unter was auch immer:)
“Je sonne. Personne. Je resonne. Re-Personne”…nous sommes deux, mous sommes trois, nous sommes quarante mille et la la:)