Zwei Personalentscheidungen sind in den vergangenen Monaten mit größerer Leidenschaft diskutiert worden als die Debatten um Präsidentenamt, Sparpaket und Euro-Krise zusammen: Darf Kevin Kuranyi mit nach Südafrika und wer hütet das deutsche Tor? Es könnte kein deutlicheres Zeichen für die Totalboulevardisierung des Fußballs geben. Nicht die allgegenwärtigen WM-Brötchen, nicht die Beflaggung Kreuzberger Balkone, nicht einmal die zu erwartenden Hupkonzerte sind ein Problem, denn sie berühren nicht den Kernbereich des Fußballs. Das Problem ist, dass in diesem Kernbereich ein Vakuum herrscht. Das geistige Gefälle zwischen den Veröffentlichungen zum Turnier und tatsächlichem Durchblick ist in etwa so groß wie das zwischen dem Freak, der sich CDs mit Original Motorenlärm kauft, und einem Ingenieur bei Daimler.
Die deutsche Mannschaft hat nun schon seit Jahren einige Probleme, die nicht abzustellen scheinen:
1. Sie kann nicht mit einer Führung umgehen. Regelmäßig verliert das Team den Faden, wenn es das erste Tor geschossen hat. Weiterspielen oder halten, abwarten und auf Konter verlegen? Man kann es nicht sagen. Heraus kommt dann etwas wie bei den Qualifikationsspielen gegen Russland – die Mannschaft steht viel zu tief, es kommt zu Chancen im Minutentakt und das Ganze wird zum Glücksspiel.
2. Sie hat Probleme in der Balleroberung. Selbst zweitklassige Gegner können sich seelenruhig den Ball hin- und herschieben, sie werden dabei durchaus wohlwollend begleitet, von Bedrängen kann jedoch keine Rede sein.
3. Sie kann keine Standards.
4. Sie ist nicht eingespielt. Die Vorrunde der Bundesliga-Saison 2008/2009 hat am Beispiel von Hoffenheim gezeigt, was man mit unerfahrenen Spielern erreichen kann, wenn man sie über einen längeren Zeitraum als Team entwickelt. Aus einem ordentlichen Zweitliga-Team wurde für ein halbes Jahr eine Spitzenmannschaft. Löw hat auf diese Möglichkeit zugunsten einer nicht enden wollenden Konkurrenzsituation verzichtet. Nun hat man unerfahrene Spieler, die nicht einmal die Laufwege ihrer Nebenleute kennen.
5. Die Seite, auf der Lahm nicht spielt, ist nicht von einem Fachmann besetzt. Aber man kann ihn halt nicht klonen.
Das sind gravierende Probleme, die die Titelkandidaten nicht haben. Diese Punkte sind tatsächlich ein Thema, aber stattdessen lässt man lieber darüber abstimmen, ob ein Mittelstürmer, der zwar in guter Form ist, dessen Position aber von drei Spielern besser besetzt wird, mitgenommen werden soll.
Ebenso verhält es sich mit der Torwartposition: Statt sich frühzeitig für einen zu entscheiden und so die Möglichkeit zu geben, sich mit der Abwehr (die wiederum auch noch nicht feststeht) einzuspielen, hat man so getan, als hätte die Entscheidung zwischen Adler, Neuer, Wiese und Butt auch nur die geringste Bedeutung. Wäre das Gesicht des Torwarts gepixelt, keine zehn Leute in Deutschland könnten sagen, wer da gerade spielt. Alle vier sind gute Torhüter, wären sie Weltklasse, dann würden sie mehr Geld verdienen bei größeren Vereinen.
Was die Beurteilung der Qualität der einzelnen Spieler angeht: Auch da ist Fußballdeutschland ganz Boulevard. Jeder Spieler ist so gut wie sein letztes Spiel. Und wenn jemand wie Mario Gomez gleich ein ganzes Turnier versemmelt, dann kann er halt einpacken. Seitdem ich mich mit Fußball beschäftige, habe ich nicht eine solche Feindseligkeit gegenüber einem Spieler der eigenen Mannschaft erlebt (ausgenommen natürlich im Fall von Mario Balotelli bei Inter Mailand). Mario Gomez hat seine gesamte Karriere durch eine Trefferquote von 50% (122 Tore in 244 Spielen), er hat dabei gegen starke Gegner genauso getroffen (vier Tore in sieben Spielen gegen München, sieben in elf gegen Bremen) wie gegen schwache, also in der Regel tief stehende, er hat schon mit Stuttgart in der Champions-League Tore erzielt und in 14 Europa League-Spielen acht Mal getroffen. Selbst in einer Saison, in der es für ihn nicht lief, hat er zehn Tore geschossen. Lukas Podolski dagegen kommt bei einer vergleichbaren Anzahl von Spielen (226) auf gerade einmal 80 Treffer. Davon hat er 24 in seiner Zweitligasaison erzielt.
Aber Podolski ist ein Spieler eigener Art, seine Formamplitude schlägt noch heftiger aus als die von Miroslav Klose, weshalb er sich einer streng faktenorientierten Bewertung entzieht. Er ist eher ein linksfüßiges Maskottchen als ein klassischer Flügelstürmer, aber in einem Sport, der seine Marotten pflegt und in dem die meisten Spieler obskure Rituale vollziehen, um das Karma zu besänftigen, unverzichtbar. Aber wie unverzichtbar müsste da erst Gomez sein?
Ehe ich mich hier in Spielerdetails verliere: Wohl noch nie hat eine deutsche Mannschaft so viele technisch begabte Spieler bei einem Turnier gehabt. Beckenbauer wurde mit sechs Vorstoppern Weltmeister, der herausragende Spieler der Europameistermannschaft von 1996 war Dieter Eilts, nun zaubern Özil, Marin, Schweinsteiger, Khedira und Lahm. Das kann eigentlich gar nicht gut gehen, aber ich hatte selten so viel Freude an einer deutschen Mannschaft wie an den U21-Europameistern vom vergangenen Jahr. Das Team musste in Ermangelung begabten Sturmnachwuchses ohne Stürmer antreten, also nicht einmal einen kleinen Kevin durften sie mitnehmen. Sie hatten auch keinen Effenberg, keinen Frings und auch sonst keinen, der sie auf dem Platz zusammengebrüllt hat. Aber sie hatten eine klare Idee von technisch ausgereiftem Defensivfußball, der so skrupellos durchgezogen wurde, als spiele da Inter Mailand.
Das hat nichts mit dem taktisch zwittrigen Fußball des WM-Kaders zu tun, der daherkommt wie der FC Barcelona aber hinten doch nur Werder Bremen ist mit einer Prise Hertha, aber doch war dieses Team ein Versprechen. Man kann als Trainer nicht in die Vergangenheit reisen und selber für Nachwuchs sorgen, deshalb kann man Löw im Großen und Ganzen keinen Vorwurf machen. Er betreibt Mangelverwaltung, es blieb schon 2006 keine Zeit für das Standardtraining, weil das Team elementare Mängel in so vielen Bereichen hatte, dass man sich darauf konzentrieren musste. Angesichts der Spielerauswahl hat er grandiose Erfolge erzielt und das, obwohl die allermeisten Spiele fürchterlich waren. Wenn überhaupt, dann war immer nur eine Halbzeit gut, das letzte Mal neunzig Minuten überzeugt hat eine deutsche Mannschaft vermutlich bei der WM 1990 und selbst da wurde seit dem Achtelfinale kein Tor mehr aus dem Spiel heraus erzielt.
Erfreulicherweise muss man nicht gut spielen, um Weltmeister zu werden. Man muss nicht einmal ein einziges Spiel gewinnen, es reichen theoretisch drei Unentschieden in der Vorrunde und ansonsten gute Nerven beim Elfmeterschießen. Und da mache ich mir keine Sorgen.