Braucht die Sünde das Dreckige?
„In allen Bereichen haben wir zunehmend das Ding ohne sein Wesen. Wir haben Bier ohne Alkohol, Fleisch ohne Fett, Kaffee ohne Koffein- und sogar virtuellen Sex ohne Sex.“
Slavoj Žižek, NOVO-Magazin 55/56
Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mit meinen Eltern eine Italienrundfahrt gemacht. Der Reiseleiter hielt endlose Monologe über Kirchen und beklagte wortreich das Zweite Vatikanische Konzil. Ein belesener Mann, der es sich nicht nehmen ließ, uns an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Als wir in Sardinien waren, las er uns aus Gavino Leddas Padre Padrone vor. Ledda schildert seine Jugend als Schafhirte. Ich gähnte, schaute in die vorbeirauschende Macchia und wurde auf einmal hellhörig.
Was hatte der Reiseleiter da gerade vorgelesen? Es scheint so zu sein, dass man als Hirtenjunge auf Sardinien viel Freizeit hat. Während seine Schafe also weideten, holte sich der kleine Gavino einem nach dem anderen runter. Er lag unter dem Baum und masturbierte und wechselte seine Position nur, um dem Schatten zu folgen. Dann machte er weiter. Irgendwann wurde ihm das langweilig und er fing an, seine Schafe zu vögeln. Ich erinnere mich nicht mehr, ob er ein Lieblingsschaf hatte, aber ich weiß noch, dass er nicht gattungstreu war. Er fickte nämlich auch Hühner. Ein Akt, von dem ich heute noch nicht weiß, wie genau er wohl vonstatten geht.
Eine Sache war dem leutseligen Gavino im Nachhinein doch recht peinlich: Er hatte zusammen mit anderen Hirten auf die Fäkalien einer Gruppe von jungen Frauen onaniert. Ich fand es schon damals sehr komisch, dass ausgerechnet das ihm peinlich war, während die unglücklichen Hühner zur sardischen Folklore zu gehören schienen, aber nun ja: Auch ein Schafebeschläfer hat anscheinend seine Prinzipien.
Im Nachhinein ist es seltsam, dass niemand den Reiseleiter daran hinderte, aus diesem Buch vorzulesen, schließlich war eine Reihe von Kindern anwesend, aber bestimmte Arten der Rücksichtnahme, die für uns heute ganz selbstverständlich sind, gab es damals einfach noch nicht.
Es drängt sich die Frage auf, ob nicht Pornographie besser für junge Leute geeignet ist als Schafe. Der Trieb bahnt sich seinen Weg, es sind Dutzende von Generationen daran gescheitert, den Trieb ihrer Nachkommen zu zivilisieren. Und auch heute funktioniert es nicht.
Alexander Portnoy, der Held von Philip Roths „Portnoys Beschwerden“, streng und selbstverständlich pornofrei erzogen von seiner jüdischen Mutter, befühlt beim Onanieren auf der Toilette den BH seiner Schwester und notzüchtet eine Leber.
Zwischen mir und dem Beischlaf mit einem Huhn oder einer Fleischspeise stand also lediglich die Weltliteratur und Tutti Frutti.
Wir können also durch den Porno nicht verdorbener gemacht werden, weil wir es ja schließlich sind, die den Porno hervorbringen – aber wird nicht der Sexualität durch die Tabulosigkeit der so dringend benötigte Schmutzfaktor geraubt?
Porno ist gesellschaftsfähig und eben doch nicht. „Pornographie fördert den Sadismus, ist Propaganda der Männer im Geschlechterkrieg und verbreitet Lügen über Frauen und ihre Sexualität“, heißt es im Programm der feministischen Partei und so war der Pornokonsument über Jahrzehnte Geistesverwandter des Vergewaltigers.
Dass Pornographie zu Gewalt gegen Frauen führt, kann allerdings ausgeschlossen werden. Der renommierte Anatom und Sexforscher Milton Diamond hat im Rahmen der Meta-Analyse Pornography, Rape and Sex Crimes in Japan herausgefunden, dass Verfügbarkeit von Pornographie mit einem „dramatischen Rückgang“ der sexuellen Gewalt korreliert.
Diese Erkenntnis hat sich in weiten Teilen der Wissenschaft durchgesetzt. Man hört heute seltener, dass Pornographie zu Vergewaltigungen führe. Verbreiteter ist dieser Tage ein anderer Gedanke, der wiederum ganz alt ist: Sex verträgt keine Freiheit, wenn man alles darf, dann hat nichts mehr den Kitzel des Verbotenen.
„Jedoch habe ich die Sünde nur durch das Gesetz erkannt. Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot.“
Paulus, Römer 7,7-7,8
Nicht nur Paulus, auch Freud hielt das Tabu für eine notwendige Voraussetzung der Sexualität. Der Reiz kann nur entstehen, wenn etwas verboten ist. Keine Zigarette schmeckt so gut wie die erste heimlich gerauchte, kein Pudding wie der nachts heimlich vor dem Kühlschrank verzehrte, kein Sex ist so leidenschaftlich wie der mit der Tochter eines rachsüchtigen Vaters. Ist das so? Müssen wir nicht von der ersten Zigarette fast alle beinahe kotzen, liegt der reingespachtelte Pudding nicht erst recht schwer im Magen und ist der heimliche Sex nicht meistens schnell und angstbesetzt und ganz ohne Vor– und Nachspiel?
Der Sex ist ein Trieb, den man nicht mit viel Aufwand teasen muss. Manchmal reicht ein Schafshintern, um ihn in Gang zu setzen. Der Gedanke, er müsse erst durch Verbote befeuert werden, ist eine Art Notwehrreaktion auf die christlichen Dogmen: „Na gut, Sex ist schmutzig, aber so muss es wohl sein, wenigstens ist er dann aufregend.“
Darüber hinaus ist Sex sowieso auch heute noch ausreichend schmutzig, denn erstens wird der Mainstream zunehmend vom Sex gereinigt (auf Youtube herrscht eine strikte Keine-Brustwarzen-Politik, die Apps für das iPad werden etwa so streng reguliert wie das saudische Staatsfernsehen) und zweitens besteht sexueller Anpassungsdruck überall. Nicht in erster Linie gesellschaftlich, aber in den verschiedenen Peergroups. So mag der Schwule sich anhören müssen, er sei spießig, wenn er Treue fordert, die Lesbe muss dagegen ihrer Partnerin treuer sein als der Papst seiner Hand, der heterosexuelle Akademiker kann nicht sagen, dass er auf schlanke Frauen mit großen Brüsten steht, und der heterosexuelle Hooligan gilt schon als schwul, wenn er niemandem nach dem Fußballspiel die Nase bricht und die heterosexuelle Frau fällt spätestens in ihrer Ehe in die traditionellen Muster zurück.
Das sind natürlich auch nur Klischees, die für den Einzelfall nicht stimmen müssen, aber es wird deutlich, dass jeder, der abweicht, schmutzig ist. (Dann könnte es für ihn ja wieder aufregend sein!) Aber er fühlt sich fehlerhaft und erfindet, dass er krank sei, sexsüchtig eben oder er macht aus einer momentanen Unlust entweder ein Syndrom oder ein Bekenntnis zur Asexualität.
Bleibt die Frage, warum wir so viel Pornos schauen und Webcam-Sex so beliebt ist. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker führt in seinem Vortrag „Freud und Leid im Internet – eine Momentaufnahme aus psychoanalytischer Sicht“ aus, Cybersex sei „in hohem Maße narzisstisch befriedigend. Überhaupt ist das Netz ein geradezu idealer Ort um narzisstische Größenphantasien, die um die Sexualität zentriert sind, auszuleben.“
Pornographie ändert nicht die Wahrnehmung, das kann man also mit ziemlicher Sicherheit sagen. Was für uns interessanter ist: Pornographie kann einen derartigen Siegeszug doch nur starten, weil die Leute sie aus irgendeinem Grund benötigen. Für eine entspannende Masturbation im Sinne von Else Buschheuers Satz „Selbstbefriedigung ist für mich wie Yoga“ ist Pornographie natürlich großartig. Aber zunehmend wird Pornographie eingesetzt, um aus Angst vor Nähe Sex zu vermeiden.
Nicht die Pornographie macht uns lustlos, weil wir lustlos und liebesunfähig sind, greifen wir zur Pornographie. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maas sagte im Interview mit Cicero: „Wir sind eine – bezogen auf Sexualität – hysterisierte und narzisstisch beziehungsgestörte Gesellschaft. Deshalb blühen die Geschäfte mit Sex-Ersatz wie Prostitution, Pornografie und einem Sexmarkt mit „Spielzeugen“ und Potenzmitteln.“ Pornographie und Stripshows auf 9Live sind Symptom, nicht Ursache. So wie Gewaltspiele nicht Amokläufer produzieren, aber zukünftige Amokläufer im Gewaltspiel das finden, was sie im Leben vermissen, finden Narzissten in der Pornographie Ablenkung von ihrer Einsamkeit.
Pornographie ist verfügbarer, aber nicht allgegenwärtig, wie oft behauptet wird. Das abendliche Fernsehprogramm ist eher gesitteter als in meiner Jugend. Und wer auf Youporn geht und feststellt, dass da alles voller Pornos ist, der geht auch in eine Moschee und kommt zu dem Schluss, dass Vollbärte wieder in Mode sind.
Sex hat unterdessen einen Imageschaden erlitten. In „Verzichten auf“ erzählt Matthias Kalle von einer Runde junger Männer, die sich daran erinnern, wie schön es gewesen sei, mit siebzehn einfach nur zu knutschen. Einer unterbricht die Sentimentalitäten und weist darauf hin, dass heute doch wohl niemand auf die Idee käme, die Gefährtin einer Discoknutscherei danach nicht mit nach Hause zu nehmen, woraufhin die anderen über ihn herfallen. „Einer sagte zu ihm, dass der Akt des Geschlechtsverkehrs eine Sache der Oliver-Geissen-Gäste geworden sei, schließlich hätten die ständig Sex, wüssten nicht, wer der Vater welchen Kindes sei und was sie wann wie mit wem gemacht hätten. Er kam zu dem verblüffenden Schluss: `Sex ist asozial´.“ Dumm fickt gut, heißt es. Ist man also dämlich, wenn man Sex hat?
Robert Pfaller schreibt in „Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“, fast als würde er Kalle antworten, die Mittelschicht überlasse „Verführungsgebaren und erotische Explizitheit“ zunehmend aus Angst vor Verlust von Sozialprestige „der sogenannten `Unterschicht´, deren sexuelles Verhalten man in Reality-Formaten im Fernsehen als exotisch bestaunt.“
Je weiter man sich vom Sex distanziert, desto eher kann man seinen gesellschaftlichen Status sichern. Sex gibt es im Hip-Hop der Unterschicht, aber der Pop der Hamburger Schule ist keimfrei. Wollen wir wie Die Sterne sein oder wie Bushido? Na eben.
Der Text ist ein Auszug aus Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in der Mitte Das Copyright liegt bei der Piper Verlag GmbH.