Meet the Ulmenthals

Die schwerste Prüfung für meine Liebe zu Greta war ihre Familie. Am Abend waren wir zum Essen bei den Ulmenthals eingeladen. Ihre Villa in Steglitz ist unglaublich prächtig. Man könnte – und soll das vermutlich auch – glauben, dass sie sich seit Urzeiten in Familienbesitz befindet. Tatsächlich ist Gretas Vater erst reich geworden, als Greta kurz vor der Pubertät stand. Oskar Ulmenthal beherrschte den Weltmarkt für homöopathische Medikamente und allerlei esoterischen Kram, den die Leute wie verrückt kauften.
Diesen Traubenzucker- und Bachblütenversand hatte Greta bei unserem Kennenlernen als Medizinbetrieb bezeichnet.

Oskar Ulmenthal und ich gaben uns ohne einander in die Augen zu schauen die Hand. Während der Hass zwischen Greta und meiner Mutter den Raum einfrieren ließ, in dem sie sich zusammen aufhielten, gerieten ihr Vater und ich beide ins Schwitzen, wenn wir uns sahen. Er hasste mich mit ganzem Körpereinsatz. Ich meinte an seinem flackernden Blick zu erkennen, dass er in meinen Schädel kriechen wollte, um mein Gehirn mit einem stumpfen Gegenstand herauszulöffeln. Da das nicht gehen würde – und das, obwohl ich seine Tochter fickte! – wollte er wenigstens alles Schlechte aus mir herausleiten. Er hätte das gekonnt, denn er war schließlich der Guru der europäischen Heilerszene.
Obwohl er mich so offensichtlich verabscheute, war er davon besessen, mich zu missionieren. Wie er sollte ich glauben, dass seine Bioresonanz-Geräte in der Lage waren, Krankheiten zu heilen, indem sie die Schwingungen im Patientenkörper verändern. Wie er sollte ich glauben, dass Wasser durch Heilsteine zu einem potenten Medikament wird. Wie er sollte ich glauben, dass wir nach dem Tod als Energiefelder weiterexistieren.

In der Küche schaute er mir in die Augen und sagte: „Ich habe gestern erst eine wunderschöne Geschichte gelesen. Zwei Embryonen unterhalten sich darüber, ob es ein Leben nach dem Uterus gibt.“

Ich drückte den Nagel meines Daumens tief in das Fleisch meines Zeigefingers hinein.
„Der eine Embryo ist davon überzeugt, dass außerhalb der Mutter nichts sein könne. Wenn da etwas wäre, dann hätten wir hier doch etwas davon mitbekommen.“

Immer weiter malte er dieses schrecklich schiefe Bild aus, dabei hatte ich mir bisher nie den Anschein gegeben, dass ich ein Ungläubiger sein könne. Aber mit dem geübten Blick des Besessenen hatte er meine Zweifel erkannt und quälte mich minutenlang mit dem unerträglichen Gleichnis. Schließlich zum hundertsten Mal die Geschichte, dass man das Blut von Gretas kleiner Schwester nur aus sieben Metern Entfernung messen könne, weil ihre Schwingungen so stark seien.
Dann rief er Greta dazu: „Ich habe was für euch.“ Er ging zum Schrank und reichte ihr Gläser, auf denen Love, Amore, Amour und Liebe stand.
„Die positive Kraft der Worte überträgt sich auf das Wasser“, erklärte er. „Du trinkst dann praktisch Liebe.“
Während wir ins Esszimmer, eigentlich müsste man Speisesaal sagen, hinübergingen, schwärmte er davon, dass er mit seinem Bioresonanzgerät eine zuckerkranke Hündin geheilt habe, was ja Beweis genug sei, dass man von Placebo nicht sprechen könne.
Ich wäre froh gewesen, ihn einen Scharlatan nennen zu können. Aber jeden Irrsinn, den er vertrieb, seien es Wünschelruten, Feng-Shui-Ratgeber, Bücher über das Gedächtnis des Wassers oder fühlende Steine, hatte er selber erprobt und glaubte mit der ganzen Inbrunst seines verblödeten Herzens daran.

Im Esszimmer saß bereits Gretas Großvater.

Der grummelige alte Mann, dem man immer noch ansah, wie gut er einmal ausgesehen hatte, wohnte mit seiner Frau im Obergeschoss der Villa.

„Der Herr Kollege“, sagte der alte Heinrich Ulmenthal, denn er war auch mal Rechtsanwalt gewesen. Ich ersparte uns allen, ihm die neuesten Entwicklungen zu erläutern und grüßte ihn mit möglichst festem Händedruck, auf starke Hände legte er wert.

Seine Frau jammerte nach Immodium. Seitdem sie ihren Darmkrebs überlebt hatte, war Josefine Ulmenthal immodium-süchtig.

„Du bekommst gleich dein Immodium, Mutter“, sagte Gretas Mutter Maria. Sie war Innenarchitektin und hatte die Villa wirklich umwerfend dekoriert. Alles sah eben überhaupt nicht dekoriert aus. Wie zufällig passte die japanische Vase zum Rokoko-Schränkchen und aus der kleinen Kommode, die gerade so weit geöffnet war, dass man es erkennen konnte, schauten hochgeistige Bücher heraus, Erstausgaben, Sammlerstücke. Ungelesen, natürlich, denn Maria Ulmenthal interessierte sich nur für Innenarchitekur und Oskar nur für Schwachsinn.

Jorge, das südamerikanische Mädchen für Alles brachte die Suppe.

Oskar schenkte uns Gin Tonic ein, ich sagte nicht “Stop!”, denn ich musste jetzt sehr schnell betrunken werden, dann hielt Oskar sein Glas hoch und trank es in einem Zug leer.
„Oskar“, sagte Maria.
„Papa“, sagte Greta.
„Was denn?“, fragte Papa Oskar.

Ich nippte an meinem Glas. Meine Augen tränten. Heinrich wollte gern über Eva Herman reden, aber Maria lenkte die Aufmerksamkeit auf die Suppe. Alle außer Heinrich lobten die Suppe und Josefine brachte in Erinnerung, dass ihr Immodium-Fläschchen wahrscheinlich in ihrem Badezimmer sei.
Dann kam Gretas kleine Schwester Katharina heim. Oskar schaute auf die Uhr und sagte: „Wir hatten acht gesagt.“
Katharinas Energie war zwar kaum messbar, trotzdem war sie eine Schlaftablette. Wahrscheinlich nahm sie Drogen, deshalb schaffte sie es nicht, von zuhause auszuziehen. Sie war eine Art Fehlpressung von Greta. Sehr sportlich und sehr gebräunt zwar, aber ihre Lippen waren etwas schmaler, ihre Nase etwas breiter, ihre Augenbrauen etwas weniger geschwungen, die Brüste etwas kleiner. Dafür war sie unbelastet von Gretas Verarmungsängsten, psychisch absolut robust und mit ergreifender geistiger Schlichtheit gesegnet. Sie trug Baggypants und ließ sich Tag für Tag von wechselnden Mitgliedern einer HipHop-Crew vom Kottbusser Tor vögeln.
Sie begrüßte mich mit einem langgezogenen zweisilbigen Hey und gab mir zwei Küsschen. Dann zwei Küsschen für Greta.
„Habe ich schon erzählt – im Wintersemester fange ich mit Kunstgeschichte an.“
„Brotlose Kunst“, schnaubte Heinrich, der jetzt gerne endlich über Eva Herman reden wollte. Die hatte nämlich recht, wenn sie.
„Das Geheimnis der Suppe ist der pürierte Lauch“, unterbrach ihn Maria.

„Ich werde den Chinesen chinesische Medizin verkaufen“, sagte Oskar. „Ich kann nämlich für Reinheit garantieren.“
„Von Reinheit versteht der Chinese nichts“, antwortete Heinrich. „Eva Herman sagt, dass man sich auf das besinnen soll, was man gut kann.“
„Und als Basis eine Mehlschwitze?“, fragte Greta mit Nachschmeckmiene, „und ein Hauch Muskat ist auch drin, oder?“
Ich nahm noch einen Schluck.

Der Südamerikaner kam herein und räumte die Suppenteller ab.
„Ich bin noch gar nicht fertig“, protestierte Josefine und Heinrich richtete genervt den Blick an die Decke.
„Das kommt davon, dass du die ganze Zeit redest.“
Josefine krampfte verbittert ihre Hand um den Suppenlöffel. Das Faktotum ließ ihren Teller stehen, schaute zu Maria, die die Augenbrauen hochgezogen hatte und nahm ihn dann mit einer schnellen Bewegung mit.
„Und bringen Sie bitte mein Immodium mit“, schrie Josefine dem Südamerikaner hinterher.

Greta erzählte etwas von einer Fabrik für chirurgische Werkzeuge in Pakistan.
„In Pakistan gibt es überhaupt keine Homöopathie“, sagte Oskar.
Maria sagte, der nächste Gang sei etwas ganz Besonderes.
Ich bat um mehr Gin Tonic und Greta sagte: „Paul.“

Als vier Stunden später der Nachtisch endlich gegessen war, behauptete ich, morgen früh raus zu müssen.
Heinrich sagte, dass der frühe Vogel den Wurm fange und ich ergänzte still: Early Worm gets eaten.
Greta drückte der Reihe nach ihre Familie, rieb Oberarme und Oskar gab mir die Hand ohne mich anzuschauen. Dann sagte er: „Ich habe gelesen, was du da schreibst im Internet. Paul, werd mal erwachsen.“ Ich lächelte ihn an und dankte ihm für den wunderbaren Abend.

Bis Kreuzberg schwieg Greta unüberhörbar, während ich so tat, als müsste ich mich wahnsinnig auf den Verkehr konzentrieren. Dann sagte sie:
„Du hättest dich wenigstens für die Gläser bedanken können.“
„Ach komm“, antwortete ich. „Ich habe mich doch für den ganzen Abend bedankt, da war doch der Dank für die Gläser schon drin enthalten.“
„Du bist doch gar kein Anwalt mehr, dachte ich. Dann musst du jetzt auch nicht mit blöden juristischen Winkelzügen anfangen. Du bekommst ein Geschenk, du bedankst dich. Das ist doch wohl normal.“ Sie umklammerte fest den Karton mit den Gläsern auf ihrem Schoß.
„Normal ist nicht unbedingt das Wort, das mir im Zusammenhang mit deiner Familie einfällt.“
„Was soll das denn heißen?“ Greta klang – nein, nicht wütend – sie klang: entsetzt.
„Ach komm.“
„Sag nicht dauernd `ach komm’, was ist denn bitte an meiner Familie nicht normal?“
„Greta.“ Wir standen am Mehringdamm an der Ampel und ich schaute sie an. Ganz blass war sie.
„Dein Vater verkauft Wasser und behauptet, dass er damit Leute heilen könne. Und Hunde.“
Greta schaute auf den Karton.
„Du kannst mich gar nicht lieben.“
„Greta, wie könnte ich dich denn nicht lieben?“
„Jeden Menschen, den ich mag, findest du Scheiße. Das ist meine Familie. Meine Familie, Paul.“
„Ich verstehe nicht, dass du so überrascht tust. Du magst doch meine Mutter auch nicht. Und du weißt, wie beschissen ich diesen esoterischen Hokus Pokus finde.“
„Kannst du nicht einmal von deinem hohen Ross runterkommen und den Menschen, die ich liebe, einen klitzekleinen Sympathievorschuss geben? Kannst du nicht. Micaela ist zu prollig, Karla zu wasweißich, mein Vater zu esoterisch. Jeder Mensch hat irgendwelche Eigenschaften, bei denen man nicht Hurra schreit. Aber man kann sie doch trotzdem lieben. Und wenn der Mensch, von dem man behauptet, dass man ihn heiraten will, jemanden mag, dann kann man doch wenigstens versuchen, ihn auch zu mögen.“
Wir waren zuhause. Ich zog den Zündschlüssel ab, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sagte:
„Ich verspreche dir, dass ich ab jetzt Vorschüsse geben werde.“
„Wirklich?“ Sie schaute mich an und lächelte tapfer. Dann umarmte sie mich und flüsterte: „Ich habe manchmal Angst, dass du dich gar nicht mehr ändern kannst.“

Ich träumte, dass ich in einer Telefonzelle stand, deren Tasten kaputt waren. Ich musste Greta anrufen. Dutzende Male musste ich die Tasten drücken und als mir endlich die richtige Kombination von Zahlen gelang, war besetzt. Ich verließ die Telefonzelle und stellte fest, dass ich in Schweden war, nicht im blondinenreichen Schweden meiner sexuellen Träume, im übergroßen, menschenarmen Schweden, kilometerweit war nur der Himmel zu sehen und staubig verschneite Straßen. Ich musste Greta finden, ein Zug fuhr vorbei, aber ich konnte nicht rechtzeitig zum Bahnhof. Ich kehrte zurück zur Telefonzelle, aber ich hatte kein Geld mehr, in der Telefonzelle war ein McDonalds, hinter dessen Glasscheiben Rinder geköpft wurden, ich schlug gegen die Scheiben, aber meine Schläge waren nicht kräftig genug, um Klang zu erzeugen. Ich fand Geld, aber jetzt hatte ich Gretas Nummer vergessen. Ich blätterte verzweifelt im Telefonbuch, aber ich verstand die Sprache nicht.

13 comments

  1. Herrje, beim Lesen hatte ich das Gefühl von sich immer enger drehenden Daumenschrauben. Das muss ich jetzt erstmal abschütteln. Ich kenne solche Situationen gut.

  2. Das sind genau die Häuser und es sind genau diese Familien, in denen dann Freitag Abends im ZDF die Leichen herumliegen. Keiner will es gewesen sein. Aber den Mörder verstehen alle.

    Vor allem die, die vor dem Fernseher sitzen.

    Beim Lesen beschlich mich das Gefühl, das Steglitz zwar weit weg von Kreuzberg gelegen scheint – aber doch irgendwie noch nicht weit genug weg.

  3. Wie verrückt.

  4. Das erinnert mich ausdrücklich nicht an meinem krimtatarischen Fast-Schwiegervater, einen Wodkaerprobten, verehrungswürdigen zottelbärtigen Brummbär, den selbst Dostojewski und Jerofejew nicht unter Zuhilfenahme alle ihrer hier einfach mal unterstellten literarischen Synergie hätten erfinden können. Ja, wäre da nicht sein auf Dauer dann doch nicht tragbare Tochter gewesen.

  5. Oh geil, Bachblüten und Bioresonanz. Der Ulmenthal würde sich mit meiner Mutter gut verstehen :/

    Wie zufällig passte die japanische Vase zum Rokoko-Schränkchen und aus der kleinen Kommode, die gerade so weit geöffnet war, dass man es erkennen konnte, schauten hochgeistige Bücher heraus, Erstausgaben, Sammlerstücke. Ungelesen, natürlich, denn Maria Ulmenthal interessierte sich nur für Innenarchitekur und Oskar nur für Schwachsinn.

    Hihi ^^

    Ich blätterte verzweifelt im Telefonbuch, aber ich verstand die Sprache nicht.

    Das kann dann aber kein schwedisches sein, Namen und Zahlen sind auf schwedisch nicht so viel anders.

  6. Entweder passt die Freundin nicht richtig oder ihre Eltern. Ein weit verbreitetes Problem!!

    Text ist toll. hoffe mehr die nächsten Tage hier vorzufinden. freu mich schon.

  7. Julie Paradise

    Sowas darf man ja eigentlich nicht laut sagen oder gar leise tippern, aber: Malte, manchmal bist Du anbetungswürdig.

  8. Wieder unglaublich gut, hoffe du setzt die Paul-Greta-Reihe fort. Auch wenn mich die Parallelen zwischen dir und ihm doch immer noch irritieren. Vonwegen Bloggen, abgebrochenes Jurastudium, Kreuzberg, du weißt schon…

  9. hihi
    “Sie war eine Art Fehlpressung von Greta.”

  10. J.D. Per Slikkenberg

    Hallo Malte, ich will bitte echt wissen: hat jemand mal wirklich zu Dir gesagt: werd mal erwachsen? Wirklich WIRKLICH?

  11. Ich glaube, meine Schwester hat das mal gesagt, hatte aber nichts mit dem Bloggen zu tun.

  12. J.D. Per Slikkenberg

    Dann bin ich ja beruhigt.

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