Urbane Legende

„Angesichts der Here-And-Nowigkeit der geldausgebenden Industrie wirst du verstehen, dass es nur mittelgut, in den Worten unseres ungefärbten Altkanzlers suboptimal kommt, wenn die Blogs, die ich vermarkte, zum letzten Mal im Winter 1944 geupdatet wurden.
Füll dein Blog, dann fülle ich dein Konto.
In Liebe, Matze“

Matze hat recht. Ich muss mehr tun.

Ohne Schlaf kann ich mich nicht konzentrieren, ohne Konzentration kann ich nicht schreiben, ohne schreiben zu können verdiene ich kein Geld, ohne frisches Geld kann ich nicht in ein Hotel, in dem ich Ruhe hätte, also muss ich weiter hier schlafen, am nächsten Tag bin ich also wieder müde und kann mich nicht konzentrieren.

Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wenn ich mir jetzt eine neue Wohnung suche. Wenn Greta es sich anders überlegt, stehe ich dann da mit einem überflüssigen Mietvertrag.
Ich antworte Matze, dass ich im Moment bei Freunden wohne und daher nicht zum Schreiben komme. Dann versuche ich noch etwas zu schlafen, aber ich habe zu heftige Rückenschmerzen. Scheiß Matratze.

„Komm hierhin, hier ist Platz, hier kann sich dein sensibler Autorengeist entfalten. Diese Wohnung ist die Anti-Faltencreme unter den Intellektuellen-Behausungen. Mi casa und so. Bin zuhause, dein König.
In Liebe.“

Geduscht fahre ich zu Matze, nachdem ich einen Dankeszettel an Jakob und Mirijam geschrieben habe. Matze hält sein Airbook in der Linken und klopft mir mit der Rechten auf die Schulter. „Küss die Hand, ich zeige dir gleich deine Gemächer, muss gerade noch etwas eintüten.“
Matze gibt gerne die Karikatur des geschäftigen Werbers, ist aber tatsächlich der Überwerber. Das ist so ein Meta-Ironie-Ding, das ich noch nicht hundertprozentig entschlüsselt habe.

Abends sitzen wir in einer Runde, in der plötzlich alle Russisch sprechen. Ich bin der einzige, der aus Westdeutschland stammt und mit Latein kann ich nicht punkten. Ein bezauberndes DSL-Flatrate-Werbegesicht sagt etwas Vokalfreies zu mir und als ich antworte, dass ich kein Russisch spreche, wendet sie sich augenrollend mit dem Sendung-mit-der-Maus-Satz „Das war Polnisch“ von mir ab.

Später knutscht das Flatrate-Model mit einem Vorzeige-Intellektuellen und ich verfluche mich dafür, kein Polnisch zu können. Dann betrinke ich mich sehr gewissenhaft und ziehe mich zurück, um unter dem Titel „Wir brauchen ein größeres Boot“ einen Artikel über die Wiedereinführung des Asylrechts zu schreiben. Ich veröffentliche ihn, ohne noch einmal Korrektur zu lesen, schlafe ein und werde nur noch einmal wach, als die Flatrate und der Vorzeiger in mein Zimmer wanken, um zu ficken.
Sie vögeln dann vor meiner Tür und ich versuche nicht daran zu denken, was Greta gerade macht.

Mitten in der Nacht höre ich Matze beim Sex. Also ich höre ihn jedes Mal bei seinem Orgasmus, ansonsten höre ich nur das Mädchen.

Am nächsten morgen sehe ich Matzes Bekanntschaft nackt. Wie alle Frauen, die ich zufällig mal nackt sehe, ist sie ein Albtraum. In WG-Badezimmern, am Strand, in Saunen – ich sehe immer nur hässliche nackte Frauen. Wäre mein Leben ein Magazinbericht bei Pro7, dann wäre die Quest: Kann Paul es in den nächsten Tagen schaffen, eine hübsche Frau nackt zu sehen? Wenn er es nicht schafft, wird seine Netzhaut veröden und er wird erblinden oder sogar sterben.
Die Frau in der Küche schämt sich nicht wegen ihres abnormen Körpers. Schließlich wurde sie gestern Nacht häufiger beschlafen als alle Frauen einer durchschnittlichen Zehntausend-Einwohner-Stadt zusammen. Kein Wunder, dass sie sich für begehrenswert hält. Beinahe brustlos ist sie. Trotz der Winzigkeit hängen ihre Brüstchen wie leergesaugt in Richtung ihres labbrigen Bauches, sie ist eine schlanke Fettleibige, aus ihrer kahlrasierten Vagina hängt ein überlanges Kitzlerpiercing heraus.
„Du bist dann wohl Paul.“
„Ja, nett dich kennen zu lernen. Tut mir leid, dass ich nicht nackt bin. Ich fühle mich angezogen so voyeuristisch.“
Kann sein, dass ich das bloß denke.
Das Grottenolmweibchen heißt Sveta oder Svenja, sie nuschelt wie der Rapper Ömer, spricht aber nicht so schnell. Sondern ganz langsam. Übervögelt halt.
Matze kommt hinzu, er ist auch nackt. Ich studiere seinen Penis. Sitze da, trinke Milch und habe Matzes riesigen Jungenpenis vor Augen, glatt und stark und gesund, kaum behaart und längst erholt von den Strapazen der Nacht.
„Matze, dein Penis hängt mir ins Gesicht.“
„Schön, nicht?“
Die beiden umarmen sich und ich kann das nicht mehr sehen.
„Ich gehe duschen.“
Und wenn ich zurückkomme, will ich keine Haut mehr hier rumlaufen haben.
Ich dusche besonders lange, um den beiden Zeit zu geben, sich anzuziehen. Als ich fertig bin, höre ich Matze röhren.
Man seufzt ja nicht, wenn man allein ist. Ich seufze also nicht, aber ich bin ein einziger Seufzer. Ich gehe auf die Straße und suche ein einladendes Café. Ich esse ein ausgezehrtes Brötchen mit Kunstaufschnitt. Trinke einen Kakao, den die Verbrecher mit Wasser zubereitet haben.
Dann habe ich eine Lebensmut-Attacke.

Ich fahre in den Zoo.
Es stellt sich raus: Allein im Zoo ist noch beschämender als allein im Kino.
Überhaupt ist allein sein peinlich. Auch die Bewohner des Big Brother-Containers haben alle begriffen, dass zwei Dinge wichtig sind, um als Mensch ernst genommen zu werden: Man darf kein Fernsehen gucken und man muss viele Freunde haben.
Die Tiere haben alle viele Freunde und die allermeisten haben nicht nur einen Geschlechtspartner – jemand besorgt ihnen einen Geschlechtspartner. Mir wird niemand ein Weibchen zuführen.
Ich stehe vor Knut. Der vor gar nicht so langer Zeit noch bezaubernde Knut sieht mittlerweile so aus, als remple er in Großraumdiscos schmächtige Typen an, um sie dann zu zwingen, sich zu entschuldigen. Der bekommt auch bald eine rundärschige Eisprinzessin, eine vom Typ „schönstes Gesicht des Sozialismus“ mit starken Brauen und mächtigen Zitzen.
Ich möchte ein Eisbär sein.
Vielleicht ein Eis. Greta liebt den Flutschfinger. Ich kaufe ihn, lecke dran und schmeiße ihn weg.

Ein grauhaariger Mann mit Taxifahrergesicht macht Nude-in-Public-Aufnahmen von einer hennafarbenen Swingerfresse. Immer, wenn niemand hinschaut, lüftet sie ihr Mini-Jeans-Röckchen und er fotografiert ihre lieblos rasierte Möse. Da ich allein bin und damit Niemand, sehe ich alles. Die Rasierpickel und die ausgefransten Schamlippen sehen aus wie ein Schaschlikteller oder Beweisfotos in einem Kriegsverbrecherprozess.

Ich beneide die Orang-Utans, die sich mit den Füßen an den Eiern kratzen können und von denen niemand etwas verlangt. Mir kommt die Idee, wieder drogensüchtig zu werden. Kiffen macht unabhängig.
Ich wähle die Nummer meines fetten Dealers Spitz.
„Spitz wie Nachbars Lumpi“, meldet er sich.
„Paul hier. Kann ich gleich mal vorbeikommen?“
„Paul! Kollege! Gerne, komm vorbei!“

Mein fetter Dealer Spitz ist eine Ruhrgebietsnatur. Laut, pockennarbig, kumpelig.
Krachend schlägt er mir auf die Schulter.
„Paul, alter Rechtsverdreher, für dich habe ich was ganz Spezielles.“
Seine Wohnung ist komplett in Braun gehalten. Braune Wohnung. Braune Kissen auf dem braunen Sofa, eine braune Tagesdecke zusammengeknüllt im Flur, braune Küche. Die Tapete ist beige.
Hotbox-Luft.
Spitz ist sein bester Kunde. Er merkt schon längst nichts mehr.
Wir haben mal zusammen studiert, vermutlich studiert er immer noch. Seit dem ersten Semester ist er mit einer hageren Volkswirtschaftlerin zusammen. Die wird immer dünner, es wirkt, als fresse ihr Spitz alles weg. Sie ist auch im Raum, sagt aber außer einem stummen Hallo und hinterher Tschüss nichts.
Spitz und ich reden ein bisschen, Dealer wollen ja immer das Gefühl haben, man sei befreundet, damit sie sich nicht eingestehen müssen, dass sie den ganzen Tag nur mit Kunden zu tun haben.
Ich kaufe fünf Gramm Gras (also dreieinhalb, die Feinwaage von Spitz ist getürkt) für 35 Euro (also für 40, Spitz kann nicht genau rausgeben) und fahre zurück in Matzes Wohnung.

Ich baue mir einen Joint und überlege ein Rahmenprogramm. Mir fällt nichts ein und ich kiffe einfach.
Als die Wirkung gerade einsetzt, kommt Matze. Er löst sich eine Vitamintablette auf und setzt sich zu mir.
„Du nimmst nicht genug Drogen“, sage ich.
„Ich habe überhaupt noch nie Drogen genommen.“
„Das ist so krank.“ Ich schüttele den Kopf.
Matze lacht gutmütig und sagt: „Du musst das machen, du bist der Künstler.“
„Oh ja. Bin ja auch bei der Künstlersozialkasse. Dann muss da wohl was dran sein. Ich komme aus Aachen. Da gibt es keine Künstler. Aber Jan Schlaudraff.“
„Ist das der, der bei Bayern immer auf der Tribüne sitzt?“
„Das ist so, als würdest du fragen: Ist da Vinci der, der immer im Louvre rumhängt?“
“Hm”, sagt Matze.
Wir schweigen.

„Und wer war das heute morgen?“, frage ich dann.
„Oh. Svantje. Sie ist das letzte amtlich anerkannte Genie. Eine urbane Legende. Sie ist Futurologin. Wenn du jetzt etwas machst, weiß sie schon, wann der Spiegel darüber schreibt und es also tot sein wird. Sie ist immer schon einen Schritt weiter und ich verstehe nur 18% von dem, was sie sagt. Leider ist sie zu toll. Solche Frauen lassen sich nicht binden.“
„Angela Merkel ist doch auch gebunden.“
„Wäre sie jünger, wäre die Gang-Bang-Aktivistin. Überfrauen verdienen, sich bedienen zu können.“
„Vielleicht bist du die nächste Stufe der Evolution. Eine Drohne. Ein Mann, der auf Macht und Intelligenz erigieren kann.“

„Blog das! Matze König ist die nächste Stufe der Evolution. Wenn sich das rumspricht, nimmt Svantje mich vielleicht nochmal.“

19 comments

  1. pynchon -tellkamp
    gute sache harry! ;-)

  2. das ist ein geflügeltes wort, sehr selten gebe ich zu. ^^

  3. herrliche pointe am ende ;-)

  4. yeah: now we are talking, baby.

  5. Hör mal, wichtig wäre, dass Du schon mal an einem eigenem Malte-Wörterbuch sammelst. „Kunstaufschnitt” gehört wortgeschützt.

  6. gut wie lange nicht, brilliante unterhaltung.

  7. Tellkamp (up; 1.Kommentar)?
    Zum Liebling des Feuilletons wird man durch solche Texte nicht. Vielmehr ist zu befürchten, dass Malte sich mit Gutfindern wie mir bescheiden muss.

  8. da steht ja auch ein – oder? MINUS ;-)

  9. Wahnsinn dieses Loch. Wie eträgt man das?

  10. Up
    Hab’ nach dem Vordiplom (Mathe) umgesattelt (Philosophie) und war dieser Rechnung daher nicht gewachsen. Ab sofort beginne ich wieder jeden Tag mit einer Polynomendivision.
    (= Tellkamp minus Schusswunde)

  11. @up
    nachdem du es also unter die top40 der rätselhaftesten kommentare geschafft hast – erklärst du noch, was das heißen soll?:)

  12. “Dealer wollen ja immer das Gefühl haben, man sei befreundet, damit sie sich nicht eingestehen müssen, dass sie den ganzen Tag nur mit Kunden zu tun haben.”

    Der beste Satz, den ich heute gelesen habe. Ich wünsche mir ein Firefox-Plugin, dass alle Texte malteisiert. Oder ein Verbot überhaupt zu schreiben, wenn man es nicht auf wenigstens 90% der Welding’schen Schreibskills schafft.

    (Hihi, ich bin ein Schleimer, ich weiß. Aber auch Lob will nett verpackt sein.)

  13. @ malte

    also ich finde den kommentar von msy (“Wahnsinn dieses Loch. Wie eträgt man das?”) ja wesentlich rätselhafter ;-)

    ansonsten was ich meinte ist: deine texte haben was pynchon-haftes, nämlich erstens expressionistische triebkraft, die fähigkeit das erleben eines augenblicks mit worten wiederzubeleben. zweitens, die sexuellen abwegigkeiten (“schaschlik”).

    stylistisch dann aber völlig anders, kein mann-rangeschmeiße, keine überflüssigen (m.E.) adjektivauftürmungen á la tellkamp. pynchon bringt das ja auch ganz gerne, aber in ganz anderer qualität. bei dir eher kurz & knapp, treffend, und mit etwas mehr augenzwinkern?! ;-)

    der blog ist aufjedenfall abonniert. wenn ich rss benutzen würde ^^

  14. Ich finde immer noch dass das eher was von Genazino hat.
    Aber mit Pynchon kann ich auch nichts anfangen.

  15. Toller Text – die Episode im Zoo gefällt mir am besten

  16. Fräulein Spock

    Ich war ganz und gar drin in der Geschichte.

  17. Allein im Kino ist gar nicht demütigend.

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