Philipp Lahm hat ein paar Dinge geschrieben über seine bisherigen Trainer. Rudi Völler habe kaum trainieren lassen, Klinsmann habe sich nicht um Taktik gekümmert, Magath die Spieler in völliger Verunsicherung belassen, van Gaal sei unbelehrbar gewesen.
Vom Überraschungsgehalt sind diese Aussagen ungefähr in der Liga der Behauptung in einem politischen Lehrbuch, Adolf Hitler habe gern mit Schäferhunden gespielt und einen Bart getragen.
Und doch bebt der fußballinteressierte Teil der Republik. Was ist geschehen?
Boys gone wild, wie immer.
Es lohnt sich, gegen seinen eigenen Instinkt zu handeln, und ins Forum von Spiegel Online zu gehen. In der Rubrik Sport kann man dort sehen, wie groß die Abneigung gegen die heutige Spielergeneration ist. Würde dort die deutsche Nationalmannschaft aufgestellt werden, dann wäre Frings immer noch am Start, Ballack sowieso, und Trainer müsste eigentlich Stefan Effenberg sein. Oder Lothar Matthäus.
Weil das noch Typen waren. Männer mit Ecken und Kanten.
Der allgegenwärtige Vorwurf an Löw ist dort: Der ist eine Schwuchtel und stellt nur seine kleinen Jungs auf. Das liest sich für einen geistig gesunden Menschen so, als würde jemand im Politikteil einer Zeitung behaupten, Angela Merkel habe Ursula von der Leyen nur zur Ministerin gemacht, weil sie mit ihr schlafen wolle, aber im Fußball ist der Irrsinn eben traditionsgemäß das Normale.
Führungsspieler brauche man, gibt Oliver Kahn, der von Jogi Löw und Jürgen Klinsmann, der Boygroup, erdolcht worden war, weil er nicht in ihr gemeinsames Beuteschema passte, das Niveau der Debatte vor, worauf alle finden, das stimme, und zwar exakt bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine der kleinen Schwuchteln dann wirklich einmal eine Meinung hat.
Nun ist diese Meinung nicht besonders originell. “DFB-Elf zu grün für Topteams” schrieb der Spiegel 2003 nach einem Testspiel gegen Italien. Kapitän der Mannschaft war Führungsgrimasse Oliver Kahn, der offensichtlich nicht verhindern konnte, dass seine Mannschaft “konfus” (so der Spiegel) spielte.
Führung hatte Kahn indes gezeigt: vor dem Spiel. Die Süddeutsche schrieb damals in der Vorberichterstattung, dass eine konstante Entwicklung kaum möglich sei. Ständig gebe es Absagen, trainiert werde kaum, aus Sorge vor noch mehr Verletzungen.
“Darüber hat sich nun auch Kapitän Oliver Kahn Gedanken gemacht (auf dem Bett seines Zimmers liegend, wie er erzählte), und das Resultat dieser inneren Einkehr erzeugte eine allgemeine Unzufriedenheit, die er in einem ebenso allgemeinen Appell an die Beteiligten formulierte. Kahn äußerte die Überzeugung, man müsse die Misere als “philosophische Frage” angehen, woraufhin er sich dann in Schwung schimpfte über “Absagen wegen fadenscheiniger Gründe” und über Kollegen, die nicht zum Länderspiel erscheinen, “weil der Zeh im linken Fuß weh tut”.”
Das ist Führung, gar keine Frage. Ein Aufruf, auch mal verletzt zu spielen, die Unterstellung, zu simulieren: Und dann mit dem wackeren und untrainierten Haufen schwindelig gespielt werden. Vielleicht wäre ja zumindest mal ein System nicht schlecht gewesen. Das sagte wenigstens Kahns Mannschaftkamerad Jens Jeremies damals. In der Ausgabe 8/2003 zitierte der Spiegel den Mittelfeldspieler genau so: “Er würde es begrüßen, wenn “zumindest mal ein System” gefunden werde.”
Was Völler von Taktik hielt, beschrieb der Spiegel so:
“Tatsächlich wurde in 14 Spielen nach der WM achtmal mit einer Dreier-Kette und sechsmal mit vier Abwehrkräften verteidigt. Und über die Stürmertalente Kevin Kurányi und Benjamin Lauth überraschte Völler mit der Auskunft: Beide würden alternierend in die A-Mannschaft berufen. Das klang so, als folgte die Personalpolitik dem Alphabet: einmal der Spieler mit dem Anfangsbuchstaben “K”, dann der mit “L”.”
Der gesamte Artikel nimmt dann Fahrt auf, Völlers gänzlicher Verzicht auf Taktik und Planung wird aufgespießt. Und tatsächlich scheint durch, dass Kahn Verantwortung auch jenseits der öffentlichen Rügen übernommen hat: Er empfahl Michael Ballack, wo der sich am besten auf dem Spielfeld aufhalten solle.
Nichts anderes hat auch Lahm gemacht, wenn er van Gaal oder Klinsmann auf Versäumnisse hingewiesen hat. Nun zu erwähnen, dass diese nicht darauf gehört haben: Wo ist das Problem? Jeder Arbeitnehmer würde dafür gefeuert werden, heißt es so ziemlich überall in den Kommentarspalten – ja? Wo denn?
Ein Arbeitnehmer, der darauf hinweist, dass die Führungsebene über Jahre schwere Fehler gemacht hat – ein Arbeitnehmer auch noch, der dazu auserkoren wurde, seine Mitspieler zu vertreten: Das ist kein Aufrührer, das ist ein Betriebsrat. Fast könnte man sagen, Lahm habe durch das Buch Führungsspielereigenschaften gezeigt. Wenn er nicht ein viel zu guter Fußballer wäre, um durch Brüllen auffallen zu müssen.