August, 2011


26
Aug 11

Der Lahm, die Schwuchtel, die Ecken, die Kanten

Philipp Lahm hat ein paar Dinge geschrieben über seine bisherigen Trainer. Rudi Völler habe kaum trainieren lassen, Klinsmann habe sich nicht um Taktik gekümmert, Magath die Spieler in völliger Verunsicherung belassen, van Gaal sei unbelehrbar gewesen.
Vom Überraschungsgehalt sind diese Aussagen ungefähr in der Liga der Behauptung in einem politischen Lehrbuch, Adolf Hitler habe gern mit Schäferhunden gespielt und einen Bart getragen.
Und doch bebt der fußballinteressierte Teil der Republik. Was ist geschehen?
Boys gone wild, wie immer.

Es lohnt sich, gegen seinen eigenen Instinkt zu handeln, und ins Forum von Spiegel Online zu gehen. In der Rubrik Sport kann man dort sehen, wie groß die Abneigung gegen die heutige Spielergeneration ist. Würde dort die deutsche Nationalmannschaft aufgestellt werden, dann wäre Frings immer noch am Start, Ballack sowieso, und Trainer müsste eigentlich Stefan Effenberg sein. Oder Lothar Matthäus.
Weil das noch Typen waren. Männer mit Ecken und Kanten.
Der allgegenwärtige Vorwurf an Löw ist dort: Der ist eine Schwuchtel und stellt nur seine kleinen Jungs auf. Das liest sich für einen geistig gesunden Menschen so, als würde jemand im Politikteil einer Zeitung behaupten, Angela Merkel habe Ursula von der Leyen nur zur Ministerin gemacht, weil sie mit ihr schlafen wolle, aber im Fußball ist der Irrsinn eben traditionsgemäß das Normale.

Führungsspieler brauche man, gibt Oliver Kahn, der von Jogi Löw und Jürgen Klinsmann, der Boygroup, erdolcht worden war, weil er nicht in ihr gemeinsames Beuteschema passte, das Niveau der Debatte vor, worauf alle finden, das stimme, und zwar exakt bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine der kleinen Schwuchteln dann wirklich einmal eine Meinung hat.

Nun ist diese Meinung nicht besonders originell. “DFB-Elf zu grün für Topteams” schrieb der Spiegel 2003 nach einem Testspiel gegen Italien. Kapitän der Mannschaft war Führungsgrimasse Oliver Kahn, der offensichtlich nicht verhindern konnte, dass seine Mannschaft “konfus” (so der Spiegel) spielte.
Führung hatte Kahn indes gezeigt: vor dem Spiel. Die Süddeutsche schrieb damals in der Vorberichterstattung, dass eine konstante Entwicklung kaum möglich sei. Ständig gebe es Absagen, trainiert werde kaum, aus Sorge vor noch mehr Verletzungen.

“Darüber hat sich nun auch Kapitän Oliver Kahn Gedanken gemacht (auf dem Bett seines Zimmers liegend, wie er erzählte), und das Resultat dieser inneren Einkehr erzeugte eine allgemeine Unzufriedenheit, die er in einem ebenso allgemeinen Appell an die Beteiligten formulierte. Kahn äußerte die Überzeugung, man müsse die Misere als “philosophische Frage” angehen, woraufhin er sich dann in Schwung schimpfte über “Absagen wegen fadenscheiniger Gründe” und über Kollegen, die nicht zum Länderspiel erscheinen, “weil der Zeh im linken Fuß weh tut”.”

Das ist Führung, gar keine Frage. Ein Aufruf, auch mal verletzt zu spielen, die Unterstellung, zu simulieren: Und dann mit dem wackeren und untrainierten Haufen schwindelig gespielt werden. Vielleicht wäre ja zumindest mal ein System nicht schlecht gewesen. Das sagte wenigstens Kahns Mannschaftkamerad Jens Jeremies damals. In der Ausgabe 8/2003 zitierte der Spiegel den Mittelfeldspieler genau so: “Er würde es begrüßen, wenn “zumindest mal ein System” gefunden werde.”

Was Völler von Taktik hielt, beschrieb der Spiegel so:

“Tatsächlich wurde in 14 Spielen nach der WM achtmal mit einer Dreier-Kette und sechsmal mit vier Abwehrkräften verteidigt. Und über die Stürmertalente Kevin Kurányi und Benjamin Lauth überraschte Völler mit der Auskunft: Beide würden alternierend in die A-Mannschaft berufen. Das klang so, als folgte die Personalpolitik dem Alphabet: einmal der Spieler mit dem Anfangsbuchstaben “K”, dann der mit “L”.”

Der gesamte Artikel nimmt dann Fahrt auf, Völlers gänzlicher Verzicht auf Taktik und Planung wird aufgespießt. Und tatsächlich scheint durch, dass Kahn Verantwortung auch jenseits der öffentlichen Rügen übernommen hat: Er empfahl Michael Ballack, wo der sich am besten auf dem Spielfeld aufhalten solle.

Nichts anderes hat auch Lahm gemacht, wenn er van Gaal oder Klinsmann auf Versäumnisse hingewiesen hat. Nun zu erwähnen, dass diese nicht darauf gehört haben: Wo ist das Problem? Jeder Arbeitnehmer würde dafür gefeuert werden, heißt es so ziemlich überall in den Kommentarspalten – ja? Wo denn?
Ein Arbeitnehmer, der darauf hinweist, dass die Führungsebene über Jahre schwere Fehler gemacht hat – ein Arbeitnehmer auch noch, der dazu auserkoren wurde, seine Mitspieler zu vertreten: Das ist kein Aufrührer, das ist ein Betriebsrat. Fast könnte man sagen, Lahm habe durch das Buch Führungsspielereigenschaften gezeigt. Wenn er nicht ein viel zu guter Fußballer wäre, um durch Brüllen auffallen zu müssen.


24
Aug 11

Club ohne Konsequenzen

Es gibt diesen Club, dessen Eingang kann überall sein.
Jeder kann rein.
Er ist riesig, unübersichtlich. Und doch kann man nicht verloren gehen.

Man hat dort Vergnügen ohne Ende. Und kommt niemals mit einem Kater raus.
Sex mit wem man will. Ohne Geschlechtskrankheiten.
Streit mit wem man will. Ohne blaues Auge.

Dieser Club macht glücklich, also sagen die Leute, er mache süchtig.
Aber nein, sagen die, die häufig da sind: “Als ich klein war, da konnte ich, wenn ich ein cleveres Kind war, Terra X schauen. Terra X, ich bitte Sie! Heute kann ich immerzu den klügsten Menschen der Welt lauschen. Ich höre von Regisseuren, wie sie ihre Filme erklären, Wissenschaftler zeigen mir ihre Studien im Original, ich muss sie mir nicht mehr von jemandem, der sie nicht verstanden hat, erzählen lassen – im Ernst, ich bin nicht süchtig: Ich bin hier gern.”
Neuerdings trifft man dauernd Leute, die man nicht mehr sehen wollte. Und selbst das ist toll. Auf einmal merkt man, dass die Leute viel netter sind, als man sie in Erinnerung hatte. Selbst der größte Vollidiot ist mit seiner Mutter da; und die ist eigentlich eine ganz anständige Frau.
Es sei da sehr gefährlich, sagen die Leute, die Angst brauchen.
Man müsse unterschiedlich viel Eintrittgeld verlangen, sagen die Leute, die mit dem Club Geld verdienen wollen.
Man müsse ein Namensschild tragen, sagen die Leute, die mit dem Club noch mehr Geld verdienen wollen.

Nö.

Nö.

Nennt mich ruhig konservativ. Ich will, dass der Club offen, frei und diskret bleibt. Was im Club passiert, bleibt im Club.
Die einzige Konsequenz ist, dass man klüger wird.
Eine schlechte Sache ist das nicht.
Deswegen wähle ich in Berlin die Piraten.


22
Aug 11

Programmraten für die Berlin-Wahl (Update: Auflösung)

Welche Partei sagt was in ihrem Programm? (Finger weg von Google!)

1) FDP
Wir wollen, dass jeder unbescholtene Bürger sich unbeobachtet im öffentlichen Raum bewegen kann. Eine diesbezügliche verdachts- und anlassunabhängige Überwachung lehnen wir daher ab.
Videoaufnahmen im öffentlichen Raum dürfen daher nur bei konkretem Verdacht einer Straftat dauerhaft gespeichert werden. Nur für die Aufklärung einer Straftat können die relevanten Aufnahmen der letzten Stunden durch technische Mittel gesichert werden (Quick-Freeze-Verfahren).
Eine Vorratsdatenspeicherung lehnen wir ab.

2) Die Grünen
Obwohl Berlin als weltoffene und tolerante Metropole gilt, sind Ausgrenzung, Diskriminierungen, Beleidigungen und auch Gewalt immer noch bittere Realität für Schwule, Lesben und Transgender. Noch viel zu viele Menschen können in der Öffentlichkeit, in Schulen oder bei der Arbeit ihre Identität nicht frei und offen zeigen, ohne Nachteile befürchten zu müssen.

3) CDU
Um homophobe Gewalt zu bekämpfen, ist es erforderlich, dass die Polizei die spezifischen Erscheinungsformen der Kriminalität gezielt erfasst und auch die Motivation der Täter ermittelt.

4) Die Grünen
Integrationsblockaden bestehen vor allem dort, wo sich soziale und rechtliche Ungleichheit, Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit mit ethnischer Herkunft überlagern. Ausgrenzung und Abgrenzung verschärfen die Spaltung.

5) CDU
In Berlin leben etwa 872.000 Menschen mit Zuwanderungshintergrund. Viele von ihnen sind gut in das Leben unserer Stadt eingegliedert.
Sie leisten als Ärzte, Polizisten, Handwerker, Händler, Arbeitnehmer und Unternehmer einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung unserer Stadt. Sie identifizieren sich mit Berlin und unserem Land. Sie fördern als ehrenamtlich Engagierte unser Gemeinwesen. Oftmals rückt ihre Integrationsleistung in der öffentlichen Debatte aber in den Hintergrund. Die Diskussion um Probleme im Bereich der Integration überschattet oftmals die Anerkennung der Erfolge.


19
Aug 11

Onkel Toni war ein schöner Mann

Es ist nicht wie bei den Leuten, die im Fernsehen von ihren Verletzungen erzählen. Olivia weint nicht, ihre Stimme bricht nicht. Olivia ist als Kind missbraucht worden, wir haben uns getroffen für diesen Artikel, wir kennen uns, sie ist sowas wie eine angeheiratete Verwandte, und ich rede jetzt erst einmal über alles, was es sonst so gibt. Wie geht es den Kindern, was macht die Arbeit, was muss der Sommer auch immer so verregnet sein.

Ich fühle mich wie ein Zahnarzt, der Angst vor seinem Patienten hat, ich muss gleich bohren, aber ich kann bloß hoffen, dass es nicht wehtut. Ich sitze auf dem anderen Sofa schräg gegenüber, meine Freundin tippt Notizen in ihren Laptop. Unnatürlicher, weniger intim könnte die Situation kaum sein, aber hinterher wird Olivia sagen, das Gespräch sei schön gewesen.

Eine grüne Liege, so eine Art Massageliege aus Kunstleder, im Keller ihres Großonkels. Und wenn sie hochschaute, kleine gerahmte Stiche an der Wand. Auf der grünen Liege aus Kunstleder lag sie nackt auf dem Bauch. Das war die eine Situation, die sich wiederholte, und ist das erste, wovon Olivia nun spricht. Die andere: Sie auf dem Schoß ihres Großonkels, seine Finger in ihrer Scheide. Kein Schreien, keine Drohung, keine Gewalt, strafrechtlich wohl eher ein minder schwerer Fall.

Architekt im tiefschwarzen Dorf

Einmal die Woche, zweimal oder dreimal, vier Jahre lang vielleicht. Die grüne Liege, die Bilder und sie nackt, irgendwo im Raum ihr Großonkel Toni. Einmal, da schaute sie nach hinten und sah ihn nicht. Vielleicht war er nicht da, vielleicht beobachtete er sie, vielleicht machte er irgendwas.

Toni war ein schöner Mann, ein stattlicher Mann, ein Mann, der die Welt gesehen hatte, ein Architekt, der nun im Alter wieder in das Eifeldorf gezogen war, das so hieß wie er mit Nachnamen hieß.

Siebenundachtzig Prozent der Einwohner wählten CDU, der Ort war katholisch, wenn ein Dorf so katholisch ist, sagt man, es sei tiefschwarz. Olivia glaubte, sie müsste beichten, was da passierte im Keller des Großonkels. Aber sie hatte ja gar keine Worte dafür. Sie war ein katholisches kleines Mädchen, so katholisch, dass sie samstags hoffte, der Blitz möge sie gleich nach der Beichte treffen, weil dann die Seele am reinsten wäre.

1961 war Olivia zehn Jahre alt, und wütend macht sie nicht die Erinnerung an Toni, wütend macht Olivia die Erinnerung an die Zeit. Diese Enge. Diese gestrickten lachsrosa Unterhosen bis über die Knie. Alles schnürte einen ein, nichts durften die Kinder, nie „Nein“ sagen, zu gar nichts.

Sie wurde immer zu ihm hingeschickt. Sie weiß nicht, ob er erst anfing, sich für sie zu interessieren, als sie zehn wurde, ob das sein Beuteschema war, sein Beutealter, oder ob er vorher noch nicht so weit war, sich an Kinder ranzumachen. „Vielleicht klappte es mit den Zwanzigjährigen einfach nicht mehr.“

Weiter bei der Berliner Zeitung


18
Aug 11

Nichtsnutz

Ich vernachlässige zur Zeit meine größte Begabung: das Nichtstun.
Wenn ich nichts tue, dann mache ich das nicht wie die Amateure, die behaupten, sie würden nichts tun, wenn sie bloß nicht arbeiten gegen Geld, in Wirklichkeit aber Blumen gießen, Waren kaufen, Autos fahren, Kinokarten erstehen oder Arme von Freunden reiben.
Ich mache es auch nicht wie die Scharlatane, die unverfroren arbeiten, während sie behaupten, eigentlich würden sie nichts tun.

Wenn ich nichts tue, dann passiert bei mir weniger als bei anderen Leuten im Schlaf. Ich würde nicht einmal liegen, wäre das nicht unvermeidlich. Man könnte fast sagen: Am Abschaffen des Liegen beim Nichtstun arbeite ich noch, aber das klänge kokett.

Die Zeiten, in denen man es als Nichtstuer weit bringen konnte, sind vorbei. Pharaonen, Cäsaren und selbst Preußenkönige brachten es in Sachen Nichtstun zu einiger Meisterschaft und machten dennoch nicht unbedeutende Karrieren. Liegt nicht eine gewisse Schönheit in dem Gedanken, dass der Nilherrscher selbst keinen Finger gerührt hat für die Erschaffung seiner Pyramide?
Kaum müde mit dem Lid bejaht haben wird er die Pläne, die sein aufgeregter Architekt ihm gezeigt hat. Das waren noch Zeiten für Herrscherkasten.
Wer die Serie “Die Tudors” geschaut hat und im Nichtstun nicht unbewandert ist, wird mit einer nicht zu leugnenden Ehrfurcht, die nah am Neid gebaut ist, gesehen haben, wie das beim Ejakulieren verschleuderte Ejakulat Henry VIII von seinem Diener aufgefangen und entsorgt wurde.
Ich, der ich selbst in Phasen der größtmöglichen Lethargie selber wische, war beschämt.

Heute jedoch, freudlose Zeit, muss selbst ein Bundeskanzler arbeiten, selbst ein Baron muss die Arbeiten, die andere ihm kopiert haben, noch verteidigen, ein Milliardär sein neues Handy anpreisen.
Für mich werden Handys erst interessant, wenn sie die Anrufe selbständig regeln. Bei der Gelegenheit: Wenn Sie eine 030 auf dem Display Ihres Handys leuchten sehen, dann ist das eine so genannte Festnetznummer. Wahrscheinlich bin ich es. Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird im Grunde ein ganz normales Gespräch, der Anrufer ist bloß nackt.
Profis ziehen sich niemals an.


8
Aug 11

Ich bin ein Überlebender

Wir hatten ja nichts. Ihr glücklichen Bastarde, die Ihr Euch in der Sekunde des Erscheinens das neue Lil‘ Wayne-Album beim iTunele kaufen könnt und eine Woche vor Erscheinen bei isohunt nicht einmal The Plastic formerly known as Geld berappen müsst, Ihr könnt Euch das natürlich nicht vorstellen.
Gnade der späten Geburt, weiße Jahrgänge, hört mir doch auf.
Wir mussten zwei Stunden lang die US Top 40 hören. Am Sonntagabend rutschten wir auf unseren bloßen Knien vor dem Radio herum mit einem Tonbandgerät, hörten mit blutenden Ohren Whitesnake und White Lion und Whitewasweißich. Und Bon Jovi. Und Heart. Nur um ein winziges Schnippselchen von Bust a Move zu erwischen, in das der “Gott lasse seine Leber von einem Adler zerhacken und dann wieder nachwachsen und dann wieder zerhacken”-DJ dann pünktlich nach zwei Minuten hereintrötete: Stau auf der A4.
Wenn wir taggen wollten, dann mussten wir unsere Eddinge mit Terpentin dingsen, mir fällt der Fachausdruck nicht mehr ein, das viele Whitesnakehören hat mir den Kopf. Wo war ich?

Dosen mit Farbe gab es bei Obi. Und habt Ihr schon einmal versucht, mit einer Kompaktanlage von Universum zu scratchen? Ihr Söhne einer für Allergiker gezüchteten Hündin, die Ihr das Scratch-Tool des Magix Music Makers für kompliziert haltet, habt Ihr überhaupt irgendeine Vorstellung davon, wie es sich anhört, wenn Kunstoff bricht?

Ich habe geweint, echte salzige Tränen strömten aus meinen Augen, als Geil von Bruce&Bongo auf Platz 1 der deutschen Charts war, weil das Rap so nah kam wie sonst nichts.

Eure kurzberockten Schlampen tragen Original Hip Hop-Make-Up von JAM-Cosmetics. Die Mädchen in unserer Klasse hatten überall Kleider, am ganzen Leib.

Ihr guckt Pornos von Schnüffelhündchen, wir konnten froh sein, wenn wir einen Hund mit Hilfe von Leberwurst überredet bekamen, an unseren Eiern zu lecken.

Ihr kauft Phillies und müsst mit Euren syphillitischen Fingern bloß noch das Chronic hineindrehen, wir haben Bananenschalen auf die Heizung gelegt und haben uns nicht mal getraut sie zu rauchen, weil der verdammte Rüdiger Kurzeja sagte, davon werde man blind.

Ihr verdammten in die Hoodies Eurer Lieblingsrapper gewandeten Schwippschwäger eines mecklenburgischen Kastraten, ihr redet von einer Rapkrise?

Ich geb Euch gleich Windsurfing.


5
Aug 11

Die Aufhörer

Vor etwa fünf Monaten habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Ich lag im Bett mit schwerem Schnupfen und ebenso schweren Gliedern, ich konnte sowieso nicht rauchen, also ergriff ich die Gelegenheit: Ich ließ es einfach bleiben.Ich hörte nicht so sehr auf wegen Lungenkrebs. Ob ich mit 75 an Krebs sterbe oder ein paar Jahre später an Alzheimer, das treibt mich nicht um, beides hat seine unschönen Seiten. Ich hörte auf, weil ich nicht mehr schmeckte, was ich aß. Und man kann ja nun sein Leben nicht in den Dienst der Lebensfreude stellen, wenn man nicht in der Lage ist, Mousse au Chocolat von Hackepeter zu unterscheiden.

Was den Schwierigkeitsgrad des Aufhörens angeht, gilt der Nikotinentzug als der Gewaltmarsch unter den Entzügen. Auf dieser Entzugsskala ist das Aufhören mit dem Nägelkauen ein Spaziergang an einem lauen Sommerabend, das Aufhören mit dem Heroin ein 5000 Meter-Lauf, das Aufhören mit einem Partner, der Tricks im Bett kann, liegt knapp darüber. Aber außer dem Alkoholentzug, bei dem man sterben kann (Der Körper kann durch das Aufhören so in Panik geraten, dass das Herz sich aus Selbstschutz geradezu in die Luft sprengt), ist der Nikotinentzug also die Königsdisziplin des Aufhörens. Was zur Folge hat, dass man sich, wenn es mit dem Aufhören gut läuft, fühlt wie Leonardo diCaprio am Bug der „Titanic“.

Die ersten zwei Wochen lang hatte ich Magenschmerzen. Statt wie Leonardo diCaprio fühlte ich mich wie Ottmar Hitzfeld. Ich war reizbar, launisch und sexuell unentschlossen, ich bekam die Haut eines Pubertierenden und hustete, ich hustete, als hätte ich angefangen mit dem Rauchen. Recherchen bei Google ergaben, dass die Flimmerhärchen, die die Lunge reinigen, durch die Zigaretten abgebrannt worden waren und erst jetzt wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ich rotzte also die Ergebnisse von sechzehn Jahren Rauchen Morgen für Morgen in das Waschbecken und fühlte mich nun nicht mehr wie Ottmar Hitzfeld, es ging mir eher wie Saddam Hussein in dem Moment, als der amerikanische Militärarzt seinen Rachen untersuchte.

Überdosis Kekse mit Schokoladenüberzug

Die Erinnerung an Zigaretten fühlte sich an wie eine verlorene Liebe. Ein Stich, eine nicht vergossene Träne, mein innerer Zustand war Rosamunde Pilcher im Endstadium, mir war nach Weinen zumute und nach einer Überdosis Keksen mit Schokoladenüberzug. Doch ich hielt durch. Und mit den Wochen setzte ein Wandel ein, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Zuerst merkte ich, dass ich keine Kopfschmerzen mehr hatte. Ich merkte sogar jetzt erst, wie oft und wie heftig ich vorher Kopfschmerzen gehabt hatte. Die Schmerzen waren zu meinem normalen Kopfgefühl geworden. Und ich schlief besser ein, so gut schlief ich ein, dass ich zum ersten Mal seit meinem zehnten Lebensjahr vor Mitternacht einschlief, ich ruhte auf einmal acht statt fünf Stunden, ich war so frisch und lebendig wie eine Punica-Werbung. Das letzte Mal, als mein Körper solche Veränderungen durchmachte, sind mir Schamhaare gewachsen.

Das Aufhören ist das Schöpfen des kleinen Mannes, dachte ich. Wer wie ich nichts Neues schaffen kann, der erzwingt Wandel eben einfach durch Verzicht. Sollte sich das, was immer meine größte Schwäche gewesen war, als meine größte Stärke erweisen? So lange ich mich erinnern kann, war ich ein Quitter, ein Hinschmeißer: kein Durchhaltevermögen, nur bedingt abwehrbereit. Musikalische Früherziehung: frühzeitig abgebrochen. Blockflötenunterricht: geschmissen. Klavierunterricht: nie über Muzio Clementi hinausgekommen. Um nicht beim Schwimmunterricht in der Schule mitmachen zu müssen, bin ich zum Amtsarzt gegangen mit der Behauptung, eine Chlorallergie zu haben.

Der Amtsarzt wusste genau, was für ein Exemplar er da vor sich hatte, brummte aber bloß: „Aber wähl bitte nicht in der Oberstufe Schwimmen.“ Ich habe es sogar geschafft, mit Mathematik aufzuhören, obwohl der Kurs verpflichtend war, es war in diesem Fall allerdings nur eine innere Kündigung. Dass ich mit dem Jurastudium aufgehört habe, hat schließlich ermöglicht, dass ich Autor geworden bin. Aufhören kann ich richtig gut. Und es hat mir viel Freude gemacht. Gut, ich kann auf Abendveranstaltungen nicht lässig zum Klavier schlendern und Chopin spielen, aber das, was ich an Überredungskunst bei meinen Eltern aufwenden musste, um mit all dem aufhören zu können, war genug Training, um Chopin kompensieren zu können.

Zum ersten Mal seit der Zeit, als im Fernsehen noch „Die Pyramide“ lief, war ich eins mit dem Zeitgeist. Ich hatte Verzicht geübt und wurde reich belohnt. Um noch mehr eins zu werden, fuhr ich mit meiner Freundin an die Ostsee. Natürlich in ein Biohotel mit Sternen, so eine Art Manufaktumkatalog unter den Hotels. Tagsüber fuhren wir Rad, abends brachte uns der Kellner Grüße aus der Küche und erzählte, sein Heilpraktiker habe ihm gegen sein Burnout-Syndrom empfohlen, seine Wut in die Wellen zu schreien. Der Kellner war natürlich eigentlich Sommelier und aß manchmal Sand, um seine Geschmacksnerven zu trainieren, und ich hatte eine neugewonnene Lebenserwartung von etwa 90 Jahren. Ich war eine Prenzlbergmutti, hätte irgendwo Laub gelegen, ich wäre mit meinen Füßen durchgefahren und hätte es fliegen lassen.

Alle so gesund hier

Dann las ich in einem nachhaltigen Strandkorb das neue Buch von Michel Houellebecq. Der schreibt vom „theatralischen Ton, den die Ober in den mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants annehmen, um die Zusammensetzung der „Amuse-Bouche“ und sonstiger „Grüße aus der Küche“ anzukündigen“, was die Hauptfigur an „sozialistische Priester“ erinnert, die eine „andächtige Messe“ wünschen. Es sei das „epikureische, friedliche, gepflegte Glück (…), das die westliche Gesellschaft den Angehörigen der Mittelschicht gegen Mitte ihres Lebens bietet“. Houellebecq, der Hund! Ich blätterte hektisch weiter – tatsächlich: Sex spielte keine Rolle mehr im neuen Houellebecq.

Ich schaute mich um: Alle so gesund hier, alle rotbäckig, gut verdienend, sie würden alle noch mindestens 60 Jahre leben, aber es würde sich anfühlen wie 600 Jahre. Maß halten! Ich war in der Hölle, betrieben mit Solarenergie. Alle hier hatten mit allem aufgehört, mit dem Rauchen, mit der Völlerei, mit dem Ehebruch, mit der lauten Musik, etwas Fleisch noch, ok, aber morgen nur Soja, Wein bloß ein Schluck. Und in der Nacht würden wir alle am Meer stehen und in die Wellen unsere Wut hineinschreien.

Das gute Brot, die gute Luft, das schöne Radfahren und unsere Rockstars sind „Wir sind Helden“. Der nächste Schritt ist unweigerlich die Askese. Auf Wiedersehen „The Bird“, wo ich den besten Burger der Stadt esse, das Rindfleisch so roh, dass die Hufe noch dranhängen, auf Wiedersehen Kater, der mich früher daran erinnerte, dass ich in der Nacht zuvor etwas richtig gemacht hatte, auf Wiedersehen Übertreibung, Ausschweifung. Nur noch eine ferne Erinnerung der heilende Moment, in dem man sich selber nicht mehr im Spiegel sehen kann. Jetzt sind alle im Reinen mit sich, das kann nicht gut gehen.

Wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft mit allem aufhört, was sie rücksichtslos, fordernd, laut und unappetitlich sein lässt, kann man bei den alten Römern studieren. Die hörten auf mit ihren Orgien, mit ihrer Sklavenhalterei, mit ihren Straßenstrichen und ihren Bordellen, in denen man sich vom Blutrausch der Arena erholen konnte, sie hörten auf, die größten Arschlöcher der damals bekannten Welt zu sein – und wurden Christen. Eine neue Welt erblühte, eine Welt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, eine Welt der guten Werke, in der man den Armen die Füße wusch und in der Sklaven Päpste wurden, eine Welt, in der man ganz nah bei Gott war. Und weit davon entfernt, fließend Wasser zu haben.

Gutmenschen, Schlechtmenschen

Ja, seltsamerweise ging mit dem ganzen Schindluder, den die alten Römer getrieben hatten, auch die komplette Zivilisation den Bach runter. Die christlichen Glaubenskrieger waren zwar gut in Fundamentalismus, aber schlecht in Straßenbau, Architektur, Kunst, Schifffahrt, Hygiene, Geburtenkontrolle (na: da erst recht), sie konnten nicht dichten, nicht denken und eine Ars Amandi hat auch keiner von ihnen geschrieben. Sie hatten aufgehört. Mit allem. Die Christen waren im Grunde das, was man heute den Grünen vorwirft. Gutmenschen, die einen Tugendstaat errichteten, in dem insgesamt weniger los war als in Wuppertals Fußgängerzone an einem Mittwochabend um 21 Uhr. Nun lässt sich mit lauter Schlechtmenschen jedoch kein Staat machen und Gladiatorenspiele machen auch bloß Spaß, wenn die handelnden Akteure keine Familienmitglieder sind.

Weiter in der Berliner Zeitung


4
Aug 11

Es gibt kein Milliardengeschäft mit Kinderpornographie

Vor einigen Wochen habe ich über mehrere Tage ein Interview mit einer heute erwachsenen Frau geführt, die zwischen ihrem zehnten und vierzehnten Lebensjahr von ihrem Onkel sexuell bedrängt worden ist. Die Verletzungen, die durch diese Übergriffe entstanden, sind auch nach Jahrzehnten noch nicht geheilt. Continue reading →


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