Texte


2
Dez 11

Die Beleidigten

Der Kopf ist rund, heißt es, damit das Denken die Richtung ändern kann. Leider ist mein Kopf eine Kugel, sodass meine Gedanken gleichzeitig in alle möglichen Richtungen schweben. Ich bin, so muss ich einräumen, unentschlossen. Meine Mutter war CDU-Wählerin, mein Vater eine Art Kommunist, darauf führe ich diese Unentschlossenheit zurück. Irgendwo zwischen „jeder für sich“ und „alle für mich“ hängt mein Denken in der Luft.

Zeitungen haben gerne eindeutige Meinungsartikel, Bücher sollten sich in einem Satz zusammenfassen lassen, und mein Einwand, warum ich denn ein Buch schreiben solle, wenn man es durch einen Satz ersetzen könne, wird von Marketingleuten mit einer Geste beantwortet, die Marketingleute im Studium an der Fachhochschule gelernt haben: Mit dieser Geste bedeuten sie Leuten, sie mögen gefälligst mal in der Wirklichkeit ankommen.
Aber auch im Privaten bin ich kein Meister der Entscheidungsfindung. Chatte ich mit unter 25-Jährigen, die sich bekanntermaßen hauptsächlich mit Smileys der Welt mitteilen, so kann ich mich nicht entscheiden, ob ich meine Zeilen ebenfalls mit Klammern und Semikola schmücke, oder doch lieber meine Antworten aussehen lasse, als redeten die jungen Leute mit ihrem Lateinlehrer.

Finde ich den „Tatort“ spießig und traurig deutsch oder gesellig und fröhlich regional? Schätze ich den Karneval als Gelegenheit, mich unbehelligt in die U-Bahn zu übergeben oder lehne ich ihn als martialische Gutelauneschlacht für Saisonallächler ab? Gesetze: alle einhalten oder nur die besten? Schule: strenge Lehrer oder kuschelige? Vermieter: auch nur Menschen oder eben gerade nicht?

Mir fehlt der klare Standpunkt, ich bin alles andere als eine Wand, gegen die es sich anzurennen lohnt. Und doch beleidige ich immer alle.

Beleidigtsein ist das neue Schwarz

In diesen wenigen Zeilen habe ich bereits CDU-Wähler („Wie kommen Sie darauf zu behaupten, der Kern des christdemokratischen Denkens sei „Jeder für sich“?), eine Art Kommunist („Klippschüler wie Sie sind es, die dem Kommunismus den Garaus machen, indem sie ihn böswillig fehldeuten als Ausnutzung der Fleißigen durch die Faulen“), unter 25-Jährige („Als frischgebackener Abiturient möchte ich Ihnen mitteilen, dass Sie, nur weil Sie im Chat von Knuddels.de Ihre Freizeit verbringen, kein abgeschlossenes Bild der Lebenswirklichkeit der Menschen unter 25 haben“) und Lateinlehrer („Ich unterrichte seit 37 Jahren Latein, wurde als Kind noch zum lateinischen Aufsatz geführt, was ja leider längst nicht mehr so praktiziert wird, und muss seit 37Jahren gegen das Vorurteil angehen, Lateinlehrer seien staubtrockene Erbsenzähler. Setzen sechs!“): beleidigt. Und natürlich Marketingleute und Fachhochschul-Rektoren, „Tatort“-Seher und -Verächter, Karnevalisten und Marschkapellenphobiker, Gesetzestreue und Anarchisten, Vermieter und solche, die es werden wollen.

Weiter in der Berliner Zeitung


9
Nov 11

Der Urpaul

Ich träume von einem Schwimmbad. Ich trage Verantwortung, vielleicht bin ich Bademeister, eher aber noch Sportlehrer. Geschrei setzt ein. Ein gesichtsloser Schüler skandalisiert, dass ein anderer Jod unter der Dusche verwendet hat. Ein Dritter meldet sich zu Wort und sagt, das Medikament, das er nehmen müsse, vertrage sich nicht mit Jod.
Ich lasse mir den Beipackzettel zeigen. Auf dem Beipackzettel ist das Bild einer Großmutter gedruckt. Diese Großmutter ist der einzige Fall einer Gegenanzeige. Sie hatte Jod und das Medikament im Mund gemischt, woraufhin Funken aus ihrem Mund schlugen.
Zutiefst vernünftig vermittele ich daraufhin, lobe den Ankläger für seine Aufmerksamkeit und tadele sanft seine denunziatorische Seite.
Als ich aufwache, erinnere ich mich außerdem daran, dass ich Herzen heilen konnte, indem sich Menschen in mich verlieben.
Greta ist schon aufgestanden. Ich rufe nach ihr, sie ist nicht da. Mein Hals ist trocken und mein Kopf schwirrt. Ich versuche den Traum zu deuten. Gelingt mir nicht.
Ich hole mir ein Glas Wasser aus der Küche und lege mich wieder ins Bett, greife nach meinem Laptop und fange an, meine Mails zu beantworten. Herzen heilen, indem andere sich in mich verlieben. Ich stehe wieder auf, rufe Greta an, aber sie geht nicht an ihr Handy.

Ich surfe ein paar Minuten, dann drücke ich auf Wahlwiederholung. Ich bin so furchtbar lästig. Sie geht nicht dran. Ich rufe Kirsa an. Mailbox. Ich spreche nicht drauf. Mache ein paar Liegestütze, fasse meine Langhantel ins Auge, lasse sie aber unberührt liegen.
Dann setze ich mich wieder aufs Bett und surfe weiter, finde nichts Interessantes. Kann mich nicht entscheiden zwischen den drei Büchern, die ich gerade lese, Fleisch ist mein Gemüse, Sternstunden der Bedeutungslosigkeit und Unentschlossen. Ich nehme alle drei mit zum Sofa, lege sie ab, mache mir Tee und einen Toast mit Erdbeermarmelade.
Ich fange mit Unentschlossen an, kann mich aber nicht konzentrieren.
Meine alte Freundin Anna erlöst mich aus meiner Grübelei.
„Nur noch neun Stunden, dann sitze ich endlich vor dem Fernseher“, freut sie sich.
„Ich mache doch diese Progressive Muskelrelaxation“, antworte ich. „Zum Ende der Übungen soll man sich ein Ruhebild vorstellen. Bei mir ist das: Paul im Pool, toter Mann spielend, um mich herum nur Blau und Licht und das gedämpfte Geräusch spielender Kinder. Bei dir wäre das: Anna vor dem Fernseher mit einer Flasche Wein.“
„Das siehst du ganz richtig. Das ist mein kopfeigener Bildschirmschoner.“
„Kopfeigener Bildschirmschoner ist gut. Das muss ich mir aufschreiben. Ich bekomme von den Lesern sowieso nur Applaus für Sachen, die in Wirklichkeit du gesagt hast. Moment.“
Ich suche mein Moleskine und schreibe Kopfeigener Bildschirmschoner (Ruhebild = doof vor dem Fernseher sitzen) hinein.
„Da muss ich dich gleich mal was fragen. Was heißt wohl: Thomas K, kann ich nicht mehr lesen, irgendetwas mit sch, also Thomas Kasch oder Karsch, dann in Klammern berüchtigtes KZ ungleich Vier-Sterne-KZ?“
„Da hat beim letzten Mal, als ich bei dir war, so eine Fernsehnase von einem berüchtigten KZ gesprochen und du hast dich gefragt, was wohl das Gegenstück dazu wäre.“
„Du bist großartig, danke! Ich schaue überhaupt nur noch Fernsehen, um Energie fürs Bloggen zu bekommen. Eine Stunde Anne Will gibt genug Hass für ein halbes Jahr.“
„Ich finde Fernsehen toll.“
„Du bist halt eher so der Lean-Back-Typ.“
„Ja, nee, ist klar.“
„Will sagen: du lehnst dich beim Medienkonsum gern zurück. Computer ist dagegen ein Lean-Forward-Medium. Ist Medienidiotensprache.“
„Danke, dass du mich einweihst. Weswegen ich aber eigentlich anrufe; der Dehag war heute wieder so unglaublich wahnsinnig unterwegs. Der stand eben vor der Toilette und hat jeden, der vorbei kam, dafür verantwortlich gemacht, dass kein Klopapier da war.“
„Was Rückschlüsse auf die Reinheit seines Rektums zu diesem Zeitpunkt zuließ.“
„Jaha, oh, ich muss aufhören, bis später.“
„Mach es…“. Schon aufgelegt.
Ich rufe mal wieder Greta an. Nichts. Bei Kirsa kann ich nicht erneut anrufen, so nah stehen wir uns noch nicht.
Also dusche ich und gehe ins Rubens zum Frühstück.

Ich nehme ein Sultanfrühstück zu mir. Frisch gepresster Orangensaft ist das Beste, was man im Mund haben kann. Endlich entspanne ich etwas. Dann kommt aus den Lautsprechern Grace Kelly und die Entspannung ist wieder weg.

Diesen Ausschnitt habe ich in den Tiefen meines Rechners gefunden. Er stammt aus der ersten Version der Geschichten um Paul und ist etwa von 2008. Zunächst sollte Paul zwischen Greta, seiner vollkommenen Freundin, und Kirsa, einem Mädchen, das nur er gut findet, stehen. Nach und nach ist der Fokus dann in Richtung Trennung von Greta gerutscht. Um die Zeit nach der Trennung ging es dann in einer Reihe von Geschichten, die ich ab 2009 hier im Blog veröffentlicht habe.
Eine erneute Transformation erlebt Paul, der zunächst ein Anwalt war, der sich zum Unmut Gretas als Blogger versuchte, und dessen Geschichte in Zeitlupe erzählte wurde, in meinem nächsten Buch.


31
Okt 11

Opferkult

Der Text ist ein Auszug aus Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in der Mitte

„Während die alte Sexualität positiv mystifiziert wurde als Medium der Befreiung, als Rausch und Ekstase, wird die neue negativ mystifiziert als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit der Geschlechter, Gewalt, Missbrauch und tödlicher Infektion.“
Volkmar Sigusch, Sexuelle Störungen und ihre Behandlung

Im Zuge eines etwas länger andauernden Verzweiflungsschubs hat der einsame Jonas es (…) mit Onlinedating versucht. Innerhalb kürzester Zeit brachte er es auf eine erstaunliche Anzahl neuer Bekanntschaften, die eine noch erstaunlichere Zahl psycho-physischer Defekte ihr Eigen nannte. Eine essgestörte Theologiestudentin, die sich gelegentlich ritzte, eine hauptberufliche Borderlinerin mit sporadischen Ansätzen, Regie zu studieren, eine noch essgestörtere ehemalige Veganerin, die von ihrer Exfreundin (!) regelmäßig verprügelt worden war und zu der Zeit gerade auf Mediengestalterin umschulte und wegen des Stress´ regelmäßig ganze Prinzenrollenpackungen verdrückte und gleich wieder von sich gab, eine depressive Tänzerin und eine Lehrerin, die eigentlich Künstlerin war.

Ihnen allen waren ihre Zustände natürlich kein bisschen unangenehm. Einige deuteten es schon in ihrem Profil an, meistens durch poetische Referenzen an popkulturelle Phänomene, die den Sensibleren unter den potentiellen Partnern gleich signalisierten „Hier wohnt ein empfindsames Gemüt“, (…) andere begannen mit der Seelenentblößung erst beim Chatten. Entweder hielten sie ihre Defekte für das Beste an sich oder hatten wirklich nicht das Gefühl, sich von ihrer besten Seite zeigen zu müssen. Denn ist es nicht so, dass derjenige, der sich bei der ersten Kontaktaufnahme eine selbstzerstörerische, schmerzhafte und monologisierende Lebensbeichte über Traumata, Frustrationen und Defekte freiwillig gibt, doch einfach der Richtige sein muss?
Jonas hatte durch die überraschende Offenheit natürlich ein deutlich abgeschwächtes erotisches Interesse an den Frauen, las sich aber, weil er ein gutmütiger Kerl ist und eben recht verzweifelt war, in seiner spärlichen Freizeit ein beträchtliches Wissen über Anorexie und Bulimie, Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, eingebildete Grand Mals und das Drama unverstandener Genies an.
Er stellte zu seinem Erstaunen fest, dass all diese Themen als tabubelastet gelten.
„Ein seltsames Tabu ist das“, wunderte er sich einmal, „das man auf sein Profil bei einer Dating-Plattform postet. Ich traue mich kaum noch zu fragen `Wie geht‘s?´, weil dann gleich wieder kommt `Ich habe heute Nacht von meinem Onkel geträumt, der mich als Kind immer fotografiert hat´.“
Jonas schrieb handtuchlange Päppel-Mails, schickte sensible Geburtstagspäckchen, machte Vorschläge für Nicht-Essensbezogene Abendgestaltung und verschaffte der Lehrerin einen Termin bei einem bekannten Galeristen.
Als er das Gefühl hatte, bei der Mediengestalterin gute Fortschritte zu machen, zog sie wieder bei ihrer Exfreundin ein, die Theologin, mit der er Stunden am Telefon über menschenfeindliche Körperbilder in der Werbung gesprochen hatte (sie hatte gesprochen, er in den Hörer genickt), kam mit einem Fitnessstudiobesitzer zusammen und sagte auf seine Nachfrage, ob das denn nicht inkonsequent sei, sie hätte ihn für `seelisch reifer gehalten´ und sehe sich nun gezwungen, den Kontakt abzubrechen, weil sie `da so Strukturen erkenne´. Die Lehrerin, na klar, vögelte anderthalb Mal beinahe mit dem Galeristen und als der nicht mehr anrief, war Jonas schuld.
Von den anderen hat er einfach so nie wieder etwas gehört.
„Ich war ihnen wahrscheinlich nicht tief genug“, sagte er. Angelesen ist halt nicht dasselbe. Und wer sich trotz ihrer Fehler für diese Frauen interessiert, der erscheint ihnen eben leider auch als ziemlicher Loser. Wer mich mag, der muss doch ein Idiot sein.

„Unerträgliche Einsamkeits- und Hilflosigkeitsgefühle werden durch Manipulation, Selbstviktimisierung und Erregungszustände mit Thrill-Suche bewältigt“, heißt es in der “Leitlinie Persönlichkeitsentwicklungsstörung – Narzisstische, antisoziale und Borderline-Entwicklungsstörung“ der Vereinigung Analytischer- und Jugendlichen-Psychotherapeuten.
Warum aber sollte man sich selbst zum Opfer machen wollen?
Es geht halt wirklich nichts über einen attestierten Defekt. Denn Opfer lieben alle. Alle wollen Opfer sein. (Selbst die, bei denen Opfer ein Schimpfwort ist, die deutschen Gangsta-Rapper, jammern in ihren Texten herum wie der Landausflug eines niedersächsischen Realschulkollegiums.)
Die Leute identifizieren sich mit ihren Krankheiten, seien sie nun albern oder dramatisch. Hauptsache, sie sind ein Teil von ihnen. Dadurch, dass jeder proaktiv leidet, werden selbst jene, denen tatsächlich etwas Schreckliches widerfahren ist, bloß zu einer weiteren Stimme im Chor der Selbstdarsteller.
Unter dem Mäntelchen des Tabubruchs erzählt Gundis Zámbó bei Kerner von ihrer Bulimie, Xavier Naidoo plaudert beim selben Gastgeber darüber, wie der indische Gärtner seiner Eltern ihn befummelt hat, Teri Hatcher (die Irre aus Desperate Housewives – okay: diese Beschreibung schränkt es nicht ein: die brünette Irre) war mit ihrer Missbrauchsstory weltweit in den Schlagzeilen und auch Ross Antony, der Dschungelkönig, kann mit so einer Geschichte aufwarten. (Teaser in der Bild: „Ross Antony ist emotional am Ende. Der Ex-Bro’Sis-Sänger weint sich durch das Dschungel-Camp. Ex-Erotik-Queen Gina Wild offenbarte er jetzt den Grund für seine Tränen: Ross wurde als Kind missbraucht.“)
Missbrauch ist so tabu, dass in den USA ein schwungvoller Markt darum herum erstanden ist. Die Autorin Elaine Showalter berichtet vom „Inzest-Kitsch“, der längst ein großes Geschäft geworden sei („angeboten werden Selbsthilfe-Kassetten, T-Shirts, Selbsthilfegruppen und Bestseller“).

Auf testedich.de kann man das Quiz „Kennst du die Krankheiten der Stars?“ spielen:

Amy Winehouse ist
Herzkrank  
An Lungenkrebs erkrankt  
Drogenabhängig  
An Brustkrebs erkrankt  
Spielsüchtig

Die Sängerin Anastacia hat
Diabetes  
Asthma  
Magen-/Darm-Beschwerden  
Magersucht  
Entzündliche chronische Darmerkrankungen

Halle Berry hat
Essstörungen  
Durchfall  
Diabetes  
Seekrankheit

Christina Applegate hat
Lungenkrebs  
Blutkrebs  
Hautkrebs  
Augenkrebs  
Brustkrebs

Über Naidoo schrieb die Bunte im Oktober 2009, als der Missbrauch pünktlich zum aktuellen Album noch einmal in einer zweiten Welle durch die Medien ging:
„Aus Angst und Scham habe er den Missbrauch immer verschwiegen und sogar seiner Mutter erst vor wenigen Jahren davon erzählt.“ Die Angst ist ja nun weg, die Scham anscheinend auch. Und ist es nicht immer gut, frei von der Leber weg die Welt zu seiner Therapeutencouch zu machen?
Während man in den europäischen Metropolen des achtzehnten Jahrhunderts noch ungeniert mit Fremden plaudern konnte, weil man einander nicht mit Privatem behelligte, ist man heute immer ganz man selbst und muss mit allem rausrücken.
„In unserer Zeit“, so der Historiker Christopher Lasch in „Das Zeitalter des Narzissmus“, „haben Beziehungen in der Öffentlichkeit die Form von Selbstenthüllungen angenommen und sind damit von tödlichem Ernst. Gespräche sind zu Bekenntnissen geworden.“
Natürlich sollte sich niemand seiner Krankheit schämen. Aber muss man sich denn unbedingt damit brüsten, dass man sich ritzt? (…)
Distanzlosigkeit ist die Norm, Sennett nannte das den „Terror der Intimität“.
Es gehört zum guten Ton, an MCS, CFS oder ADHS zu leiden und das zur Begrüßung zu sagen. Hach, die ganzen künstlichen Gerüche hier, der schreckliche Stress, die Ablenkung! Ich bekomme keine Luft mehr, ich bin so müde, ich komme zu nichts!

Wer nichts hat, der ist am Ende noch normal und das ist nun einmal wirklich kaum zu heilen. Einer Kandidatin bei Deutschland sucht den Superstar bricht die Stimme, als sie von ihrer Diabetes erzählt, eine andere bindet der Jury zur Begrüßung auf die Nase, dass sie herzkrank ist (Bohlen hatte unvorsichtigerweise nach ihrem Tattoo gefragt, das selbstverständlich aus einem Herz mit ihrem „neuen Geburtsdatum“ bestand). Als sie dann weiterkommt, weil Bohlen findet, sie könne zwar nicht singen, habe aber schöne Augen, stürmt sie zu ihrer Mutter und ruft „Ich habe nur Komplimente bekommen!“, eine gewagte These für jemanden, der bei einem Sangeswettbewerb gesagt bekommt, er könne nicht singen, aber wir sind hier ja unter Narzissten.
Wenn es einem rechtzeitig an etwas Modischem gebricht, dann hat man gute Aussichten, auf die Betroffenencouch bei Anne Will zu kommen und mit Leidensmiene davon zu sprechen, dass man nie darüber sprechen dürfe.

Mit ein wenig Glück sitzt das Opfer wenig später neben Veronica Ferres, die einen Film basierend auf dem Leben des Betroffenen dreht und einen Selbsthilfeverein gründet, bei dessen Gründungsfeierlichkeiten ihre Stimme kurz bricht und ihr Blick tränenumflort ins Nichts wandert.

Aber woher kommt dieser Opferkult? Zum einen ist er sicherlich Ausfluss der narzisstischen Gesellschaft, denken Sie an die typische Selbstviktimisierung. Eine unerklärliche Krankheit rückt einen halt doch recht zuverlässig in den Mittelpunkt und macht einen speziell. Aber auch politisch ist das Opfertum durchaus gewollt.

Wer sich beschwert, der bekommt recht. Linke finden Opfer ja sowieso toll, aber auch Neoliberalen kommt es gelegen, wenn mit Hilfe der sich beschwerenden Opfer der öffentliche Raum immer weiter eingeschränkt und somit nach und nach den Gesetzen des Privaten unterworfen wird. Schon seit 2000 darf man sich im kanadischen Halifax in öffentlichen Gebäuden nicht mehr parfümiert aufhalten, immer mehr Universitäten erlassen Verbote für künstliche Duftstoffe.

Vom Rauchen oder gar Anzüglichkeiten gar nicht zu reden. Nicht mehr lang und der öffentliche Raum wird keimfrei und unbewohnbar sein wie das Wohnzimmer eines Super-Allergikers. Ein Flirt verletzt dann nicht nur die Privatsphäre des Angeflirteten sondern auch der Umstehenden. „Lernen Sie Leute doch bitte zu Hause kennen!“
Tristesse normale halt.
Der Opferkult killt jede Erotik gleich auf mehreren Ebenen: Zum einen macht es der starre Blick auf sich und das eigene Leid dem Opfer leicht, sein mangelndes Interesse an anderen zu begründen.
„Mich hat nie eine gefragt, wie es mir geht“, sagt Jonas, aber er hatte auch kein Attest und war in keiner Onlineselbsthilfegruppe (bis er gemerkt hat, dass er natürlich doch in einer war, nur hieß sie halt Singlebörse).

Wie The Last Psychiatrist schon sagte: „Es hilft einem in einer narzisstischen Kultur nichts, kein Narzisst zu sein.“ Wer hilfsbereit ist wie Jonas, der ist den professionellen Opfern schutzlos ausgeliefert.
Zum anderen muss jede Form verführerischen Verhaltens zurückstehen hinter dem Bekenntnis des eigenen Leids, jede Höflichkeit würde nur den Moment der Selbstenthüllung herauszögern. Und auch im öffentlichen Raum fällt nach und nach alles flach, was unsere Urgroßeltern noch zur Verlobung führte.

Flirten wird zum Eingriff in die Privatsphäre degradiert. Feuer reichen, cool inhalieren, aufregend nach künstlichen Stoffen duften: Machen Sie das bitte zu Hause.
Man kann jedoch immer noch wichsen, vielleicht schafft man es in eine Talkshow, in der man dann über Pornosucht philosophiert, mit Veronica Ferres und anderen passionierten Opferanwälten.


6
Okt 11

In Berlin ist das Finanzamt lustiger als die Clubs

Eines der zahlreichen Berliner Finanzämter verlangt von den Berliner Clubbetreibern rückwirkend 19 statt wie bisher 7% Umsatzsteuer. Wie kann es zu Problemen dieser Art kommen? Hier ein Erfahrungsbericht:

Auch ich musste einmal die Frage klären, ob und wieviel Mehrwertsteuer ich auf meine Rechnungen schreiben darf.
Wie bei jedem Menschen verursachen Amtsbesuche bei mir Bindehautentzündung, Hörsturz, Schwitzehändchen und ein Ziehen im Nacken. Und das schon am Abend zuvor. Söhne und Töchter von Henkersknechten schicken einen durch einen schlecht gelüfteten Alptraum von Franz Kafka. Man wird von Zeit zu Zeit mit Zetteln versorgt, die man an anderer Stelle zu hinterlegen hat. Dabei darf niemals das Geheimnis verraten werden, wo sich diese andere Stelle befindet. Wenn man dann irgendwann zwischen Hae-Hue und Je-Ji verdurstet ist, bekommt man einen Stempel auf die ausgebleichten Knochen gedrückt und der Hausmeister trägt deine sterblichen Überreste zu den anderen Karteileichen in das Archiv.

Das Finanzamt in Kreuzberg ist anders. Sonnendurchflutete Flure führen einen zu Zimmerpalmenoasen, in denen lachende Menschen in freudiger Erregung ihrer Begegnung mit den Menschen vom Bürgerservice harren. Nach einer Wartezeit von wenigen Sekunden wird man von einer rosigen Dame strahlend begrüßt.

„Ich muss wissen, ob ich auf meinen Rechnungen einen Mehrwertsteuersatz angeben muss.“
Die rosige Dame bricht in schallendes Gelächter aus. Ich lache mit, erst noch verunsichert, dann auch aus voller Kehle. Es ist aber auch ein lauschiges Plätzchen hier. Bilder von mit Aletebrei aufgezogenen Katzen hängen an den Wänden und öffnen das Herz eines jeden, der eins hat, Kaffeeduft wärmt die Nase und sogar Zettelchen, die man bekritzeln kann, sind von gewieften Interieurdesignern appliziert worden.

Die rosige Dame greift nun zum Telefonhörer, um den Witz einer Kollegin, ach was: Freundin weiter zu erzählen. Da ist ein Frohlocken und Sich-den-Bauch-halten, dass selbst der Himmel neidisch wird. Mit Tränen in den Augen wendet sich die rosige Dame nach zehn Minuten, die sich in dieser Atmosphäre anfühlen wie allerhöchstens neun, wieder mir zu, sichtbar hoffend, dass ich noch so einen Knüller auf Lager hätte.

Ha, einen habe ich noch: „In welchem Gesetz könnte ich das denn gegebenenfalls nachschauen?“ Der war gut. Sogleich greift die Rose vom Amt wieder zum Hörer, hält sich diesmal gar nicht mit langen Vorreden auf und trompetet hinein: „In welchem Gesetz? Muhahhha. Gesetz!“ Sie röchelt nun, ihr Gesicht ist von rosig zu purpur gewechselt, die Tränen fließen in Sturzbächen hinunter. Auch ich kann mich längst nicht mehr halten, rolle auf dem Boden hin und her, versuche die Katzen zu fixieren, um nicht völlig haltlos zu werden.

Die rosige Dame beruhigt sich langsam und wird nun in ein Gespräch über die Abendplanung, den Sommerurlaub und das übernächste Osterfest verstrickt, so dass ich in aller Ruhe die Babyfotos aller anderen Angestellten studieren, meinen Abschluss in Gehirnchirurgie an der Fernuni Hagen absolvieren kann und Olympiasieger im Bodybuilding und Einhandsegeln werde, was in dieser Kombination noch niemandem zuvor gelungen ist.

Reuig schaut die rosige Dame auf die Uhr, nachdem sie den Hörer niedergelegt hat. „Leider müssen wir jetzt schließen. Aber schauen Sie doch morgen früh mal wieder hinein. Vielleicht“ – an dieser Stelle gerät sie wieder ins Prusten – „finden wir ja dann eine Lösung.“

Beseelt machte ich mich auf den Heimweg. Das hier war das Paradies der Werktätigen, der Hort der sozialen Ruhe, der Triumph von Marx, Engels und Karl Moik. Hier war alles gut und alles Freude. Hier würde ich die nächsten Wochen verbringen. Und auf meine Rechnungen? Ach, da würde ich einfach gemalte Witze draufkritzeln. Zettel gab es dort ja genug.

(Der Text ist mehrere Jahre alt, aber: Er wird nie alt. Danke, Finanzamt!)


19
Aug 11

Onkel Toni war ein schöner Mann

Es ist nicht wie bei den Leuten, die im Fernsehen von ihren Verletzungen erzählen. Olivia weint nicht, ihre Stimme bricht nicht. Olivia ist als Kind missbraucht worden, wir haben uns getroffen für diesen Artikel, wir kennen uns, sie ist sowas wie eine angeheiratete Verwandte, und ich rede jetzt erst einmal über alles, was es sonst so gibt. Wie geht es den Kindern, was macht die Arbeit, was muss der Sommer auch immer so verregnet sein.

Ich fühle mich wie ein Zahnarzt, der Angst vor seinem Patienten hat, ich muss gleich bohren, aber ich kann bloß hoffen, dass es nicht wehtut. Ich sitze auf dem anderen Sofa schräg gegenüber, meine Freundin tippt Notizen in ihren Laptop. Unnatürlicher, weniger intim könnte die Situation kaum sein, aber hinterher wird Olivia sagen, das Gespräch sei schön gewesen.

Eine grüne Liege, so eine Art Massageliege aus Kunstleder, im Keller ihres Großonkels. Und wenn sie hochschaute, kleine gerahmte Stiche an der Wand. Auf der grünen Liege aus Kunstleder lag sie nackt auf dem Bauch. Das war die eine Situation, die sich wiederholte, und ist das erste, wovon Olivia nun spricht. Die andere: Sie auf dem Schoß ihres Großonkels, seine Finger in ihrer Scheide. Kein Schreien, keine Drohung, keine Gewalt, strafrechtlich wohl eher ein minder schwerer Fall.

Architekt im tiefschwarzen Dorf

Einmal die Woche, zweimal oder dreimal, vier Jahre lang vielleicht. Die grüne Liege, die Bilder und sie nackt, irgendwo im Raum ihr Großonkel Toni. Einmal, da schaute sie nach hinten und sah ihn nicht. Vielleicht war er nicht da, vielleicht beobachtete er sie, vielleicht machte er irgendwas.

Toni war ein schöner Mann, ein stattlicher Mann, ein Mann, der die Welt gesehen hatte, ein Architekt, der nun im Alter wieder in das Eifeldorf gezogen war, das so hieß wie er mit Nachnamen hieß.

Siebenundachtzig Prozent der Einwohner wählten CDU, der Ort war katholisch, wenn ein Dorf so katholisch ist, sagt man, es sei tiefschwarz. Olivia glaubte, sie müsste beichten, was da passierte im Keller des Großonkels. Aber sie hatte ja gar keine Worte dafür. Sie war ein katholisches kleines Mädchen, so katholisch, dass sie samstags hoffte, der Blitz möge sie gleich nach der Beichte treffen, weil dann die Seele am reinsten wäre.

1961 war Olivia zehn Jahre alt, und wütend macht sie nicht die Erinnerung an Toni, wütend macht Olivia die Erinnerung an die Zeit. Diese Enge. Diese gestrickten lachsrosa Unterhosen bis über die Knie. Alles schnürte einen ein, nichts durften die Kinder, nie „Nein“ sagen, zu gar nichts.

Sie wurde immer zu ihm hingeschickt. Sie weiß nicht, ob er erst anfing, sich für sie zu interessieren, als sie zehn wurde, ob das sein Beuteschema war, sein Beutealter, oder ob er vorher noch nicht so weit war, sich an Kinder ranzumachen. „Vielleicht klappte es mit den Zwanzigjährigen einfach nicht mehr.“

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5
Aug 11

Die Aufhörer

Vor etwa fünf Monaten habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Ich lag im Bett mit schwerem Schnupfen und ebenso schweren Gliedern, ich konnte sowieso nicht rauchen, also ergriff ich die Gelegenheit: Ich ließ es einfach bleiben.Ich hörte nicht so sehr auf wegen Lungenkrebs. Ob ich mit 75 an Krebs sterbe oder ein paar Jahre später an Alzheimer, das treibt mich nicht um, beides hat seine unschönen Seiten. Ich hörte auf, weil ich nicht mehr schmeckte, was ich aß. Und man kann ja nun sein Leben nicht in den Dienst der Lebensfreude stellen, wenn man nicht in der Lage ist, Mousse au Chocolat von Hackepeter zu unterscheiden.

Was den Schwierigkeitsgrad des Aufhörens angeht, gilt der Nikotinentzug als der Gewaltmarsch unter den Entzügen. Auf dieser Entzugsskala ist das Aufhören mit dem Nägelkauen ein Spaziergang an einem lauen Sommerabend, das Aufhören mit dem Heroin ein 5000 Meter-Lauf, das Aufhören mit einem Partner, der Tricks im Bett kann, liegt knapp darüber. Aber außer dem Alkoholentzug, bei dem man sterben kann (Der Körper kann durch das Aufhören so in Panik geraten, dass das Herz sich aus Selbstschutz geradezu in die Luft sprengt), ist der Nikotinentzug also die Königsdisziplin des Aufhörens. Was zur Folge hat, dass man sich, wenn es mit dem Aufhören gut läuft, fühlt wie Leonardo diCaprio am Bug der „Titanic“.

Die ersten zwei Wochen lang hatte ich Magenschmerzen. Statt wie Leonardo diCaprio fühlte ich mich wie Ottmar Hitzfeld. Ich war reizbar, launisch und sexuell unentschlossen, ich bekam die Haut eines Pubertierenden und hustete, ich hustete, als hätte ich angefangen mit dem Rauchen. Recherchen bei Google ergaben, dass die Flimmerhärchen, die die Lunge reinigen, durch die Zigaretten abgebrannt worden waren und erst jetzt wieder ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ich rotzte also die Ergebnisse von sechzehn Jahren Rauchen Morgen für Morgen in das Waschbecken und fühlte mich nun nicht mehr wie Ottmar Hitzfeld, es ging mir eher wie Saddam Hussein in dem Moment, als der amerikanische Militärarzt seinen Rachen untersuchte.

Überdosis Kekse mit Schokoladenüberzug

Die Erinnerung an Zigaretten fühlte sich an wie eine verlorene Liebe. Ein Stich, eine nicht vergossene Träne, mein innerer Zustand war Rosamunde Pilcher im Endstadium, mir war nach Weinen zumute und nach einer Überdosis Keksen mit Schokoladenüberzug. Doch ich hielt durch. Und mit den Wochen setzte ein Wandel ein, wie ich ihn nicht für möglich gehalten hätte. Zuerst merkte ich, dass ich keine Kopfschmerzen mehr hatte. Ich merkte sogar jetzt erst, wie oft und wie heftig ich vorher Kopfschmerzen gehabt hatte. Die Schmerzen waren zu meinem normalen Kopfgefühl geworden. Und ich schlief besser ein, so gut schlief ich ein, dass ich zum ersten Mal seit meinem zehnten Lebensjahr vor Mitternacht einschlief, ich ruhte auf einmal acht statt fünf Stunden, ich war so frisch und lebendig wie eine Punica-Werbung. Das letzte Mal, als mein Körper solche Veränderungen durchmachte, sind mir Schamhaare gewachsen.

Das Aufhören ist das Schöpfen des kleinen Mannes, dachte ich. Wer wie ich nichts Neues schaffen kann, der erzwingt Wandel eben einfach durch Verzicht. Sollte sich das, was immer meine größte Schwäche gewesen war, als meine größte Stärke erweisen? So lange ich mich erinnern kann, war ich ein Quitter, ein Hinschmeißer: kein Durchhaltevermögen, nur bedingt abwehrbereit. Musikalische Früherziehung: frühzeitig abgebrochen. Blockflötenunterricht: geschmissen. Klavierunterricht: nie über Muzio Clementi hinausgekommen. Um nicht beim Schwimmunterricht in der Schule mitmachen zu müssen, bin ich zum Amtsarzt gegangen mit der Behauptung, eine Chlorallergie zu haben.

Der Amtsarzt wusste genau, was für ein Exemplar er da vor sich hatte, brummte aber bloß: „Aber wähl bitte nicht in der Oberstufe Schwimmen.“ Ich habe es sogar geschafft, mit Mathematik aufzuhören, obwohl der Kurs verpflichtend war, es war in diesem Fall allerdings nur eine innere Kündigung. Dass ich mit dem Jurastudium aufgehört habe, hat schließlich ermöglicht, dass ich Autor geworden bin. Aufhören kann ich richtig gut. Und es hat mir viel Freude gemacht. Gut, ich kann auf Abendveranstaltungen nicht lässig zum Klavier schlendern und Chopin spielen, aber das, was ich an Überredungskunst bei meinen Eltern aufwenden musste, um mit all dem aufhören zu können, war genug Training, um Chopin kompensieren zu können.

Zum ersten Mal seit der Zeit, als im Fernsehen noch „Die Pyramide“ lief, war ich eins mit dem Zeitgeist. Ich hatte Verzicht geübt und wurde reich belohnt. Um noch mehr eins zu werden, fuhr ich mit meiner Freundin an die Ostsee. Natürlich in ein Biohotel mit Sternen, so eine Art Manufaktumkatalog unter den Hotels. Tagsüber fuhren wir Rad, abends brachte uns der Kellner Grüße aus der Küche und erzählte, sein Heilpraktiker habe ihm gegen sein Burnout-Syndrom empfohlen, seine Wut in die Wellen zu schreien. Der Kellner war natürlich eigentlich Sommelier und aß manchmal Sand, um seine Geschmacksnerven zu trainieren, und ich hatte eine neugewonnene Lebenserwartung von etwa 90 Jahren. Ich war eine Prenzlbergmutti, hätte irgendwo Laub gelegen, ich wäre mit meinen Füßen durchgefahren und hätte es fliegen lassen.

Alle so gesund hier

Dann las ich in einem nachhaltigen Strandkorb das neue Buch von Michel Houellebecq. Der schreibt vom „theatralischen Ton, den die Ober in den mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants annehmen, um die Zusammensetzung der „Amuse-Bouche“ und sonstiger „Grüße aus der Küche“ anzukündigen“, was die Hauptfigur an „sozialistische Priester“ erinnert, die eine „andächtige Messe“ wünschen. Es sei das „epikureische, friedliche, gepflegte Glück (…), das die westliche Gesellschaft den Angehörigen der Mittelschicht gegen Mitte ihres Lebens bietet“. Houellebecq, der Hund! Ich blätterte hektisch weiter – tatsächlich: Sex spielte keine Rolle mehr im neuen Houellebecq.

Ich schaute mich um: Alle so gesund hier, alle rotbäckig, gut verdienend, sie würden alle noch mindestens 60 Jahre leben, aber es würde sich anfühlen wie 600 Jahre. Maß halten! Ich war in der Hölle, betrieben mit Solarenergie. Alle hier hatten mit allem aufgehört, mit dem Rauchen, mit der Völlerei, mit dem Ehebruch, mit der lauten Musik, etwas Fleisch noch, ok, aber morgen nur Soja, Wein bloß ein Schluck. Und in der Nacht würden wir alle am Meer stehen und in die Wellen unsere Wut hineinschreien.

Das gute Brot, die gute Luft, das schöne Radfahren und unsere Rockstars sind „Wir sind Helden“. Der nächste Schritt ist unweigerlich die Askese. Auf Wiedersehen „The Bird“, wo ich den besten Burger der Stadt esse, das Rindfleisch so roh, dass die Hufe noch dranhängen, auf Wiedersehen Kater, der mich früher daran erinnerte, dass ich in der Nacht zuvor etwas richtig gemacht hatte, auf Wiedersehen Übertreibung, Ausschweifung. Nur noch eine ferne Erinnerung der heilende Moment, in dem man sich selber nicht mehr im Spiegel sehen kann. Jetzt sind alle im Reinen mit sich, das kann nicht gut gehen.

Wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft mit allem aufhört, was sie rücksichtslos, fordernd, laut und unappetitlich sein lässt, kann man bei den alten Römern studieren. Die hörten auf mit ihren Orgien, mit ihrer Sklavenhalterei, mit ihren Straßenstrichen und ihren Bordellen, in denen man sich vom Blutrausch der Arena erholen konnte, sie hörten auf, die größten Arschlöcher der damals bekannten Welt zu sein – und wurden Christen. Eine neue Welt erblühte, eine Welt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, eine Welt der guten Werke, in der man den Armen die Füße wusch und in der Sklaven Päpste wurden, eine Welt, in der man ganz nah bei Gott war. Und weit davon entfernt, fließend Wasser zu haben.

Gutmenschen, Schlechtmenschen

Ja, seltsamerweise ging mit dem ganzen Schindluder, den die alten Römer getrieben hatten, auch die komplette Zivilisation den Bach runter. Die christlichen Glaubenskrieger waren zwar gut in Fundamentalismus, aber schlecht in Straßenbau, Architektur, Kunst, Schifffahrt, Hygiene, Geburtenkontrolle (na: da erst recht), sie konnten nicht dichten, nicht denken und eine Ars Amandi hat auch keiner von ihnen geschrieben. Sie hatten aufgehört. Mit allem. Die Christen waren im Grunde das, was man heute den Grünen vorwirft. Gutmenschen, die einen Tugendstaat errichteten, in dem insgesamt weniger los war als in Wuppertals Fußgängerzone an einem Mittwochabend um 21 Uhr. Nun lässt sich mit lauter Schlechtmenschen jedoch kein Staat machen und Gladiatorenspiele machen auch bloß Spaß, wenn die handelnden Akteure keine Familienmitglieder sind.

Weiter in der Berliner Zeitung


13
Jul 11

Ein Autor im Jahr 2039

Moment: Natürlich weiß ich, dass niemand meine Bücher liest. Erstens bin ich kein Fantast und zweitens ist das ja schon ziemlich lange so. Der einzige außer mir ist in der Regel mein Lektor, also der zuständige EU-Beamte von der Europäischen Initiative zum Erhalt des Kulturguts Buch. So heißt sie natürlich nicht, aber ich kann mir französische Namen so schlecht merken. Der Beamte spricht es immer so aus wie der Sprecher früher in der Renault-Werbung “Créateur d´automobiles” sagte, so extra nasal und schnell. Continue reading →


30
Jun 11

Generation Wix (Teil 2)

Braucht die Sünde das Dreckige?

„In allen Bereichen haben wir zunehmend das Ding ohne sein Wesen. Wir haben Bier ohne Alkohol, Fleisch ohne Fett, Kaffee ohne Koffein- und sogar virtuellen Sex ohne Sex.“
Slavoj Žižek, NOVO-Magazin 55/56

Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mit meinen Eltern eine Italienrundfahrt gemacht. Der Reiseleiter hielt endlose Monologe über Kirchen und beklagte wortreich das Zweite Vatikanische Konzil. Ein belesener Mann, der es sich nicht nehmen ließ, uns an seinem Wissen teilhaben zu lassen. Als wir in Sardinien waren, las er uns aus Gavino Leddas Padre Padrone vor. Ledda schildert seine Jugend als Schafhirte. Ich gähnte, schaute in die vorbeirauschende Macchia und wurde auf einmal hellhörig.
Was hatte der Reiseleiter da gerade vorgelesen? Es scheint so zu sein, dass man als Hirtenjunge auf Sardinien viel Freizeit hat. Während seine Schafe also weideten, holte sich der kleine Gavino einem nach dem anderen runter. Er lag unter dem Baum und masturbierte und wechselte seine Position nur, um dem Schatten zu folgen. Dann machte er weiter. Irgendwann wurde ihm das langweilig und er fing an, seine Schafe zu vögeln. Ich erinnere mich nicht mehr, ob er ein Lieblingsschaf hatte, aber ich weiß noch, dass er nicht gattungstreu war. Er fickte nämlich auch Hühner. Ein Akt, von dem ich heute noch nicht weiß, wie genau er wohl vonstatten geht.
Eine Sache war dem leutseligen Gavino im Nachhinein doch recht peinlich: Er hatte zusammen mit anderen Hirten auf die Fäkalien einer Gruppe von jungen Frauen onaniert. Ich fand es schon damals sehr komisch, dass ausgerechnet das ihm peinlich war, während die unglücklichen Hühner zur sardischen Folklore zu gehören schienen, aber nun ja: Auch ein Schafebeschläfer hat anscheinend seine Prinzipien.
Im Nachhinein ist es seltsam, dass niemand den Reiseleiter daran hinderte, aus diesem Buch vorzulesen, schließlich war eine Reihe von Kindern anwesend, aber bestimmte Arten der Rücksichtnahme, die für uns heute ganz selbstverständlich sind, gab es damals einfach noch nicht.
Es drängt sich die Frage auf, ob nicht Pornographie besser für junge Leute geeignet ist als Schafe. Der Trieb bahnt sich seinen Weg, es sind Dutzende von Generationen daran gescheitert, den Trieb ihrer Nachkommen zu zivilisieren. Und auch heute funktioniert es nicht.

Alexander Portnoy, der Held von Philip Roths „Portnoys Beschwerden“, streng und selbstverständlich pornofrei erzogen von seiner jüdischen Mutter, befühlt beim Onanieren auf der Toilette den BH seiner Schwester und notzüchtet eine Leber.
Zwischen mir und dem Beischlaf mit einem Huhn oder einer Fleischspeise stand also lediglich die Weltliteratur und Tutti Frutti.
Wir können also durch den Porno nicht verdorbener gemacht werden, weil wir es ja schließlich sind, die den Porno hervorbringen – aber wird nicht der Sexualität durch die Tabulosigkeit der so dringend benötigte Schmutzfaktor geraubt?
Porno ist gesellschaftsfähig und eben doch nicht. „Pornographie fördert den Sadismus, ist Propaganda der Männer im Geschlechterkrieg und verbreitet Lügen über Frauen und ihre Sexualität“, heißt es im Programm der feministischen Partei und so war der Pornokonsument über Jahrzehnte Geistesverwandter des Vergewaltigers.
Dass Pornographie zu Gewalt gegen Frauen führt, kann allerdings ausgeschlossen werden. Der renommierte Anatom und Sexforscher Milton Diamond hat im Rahmen der Meta-Analyse Pornography, Rape and Sex Crimes in Japan herausgefunden, dass Verfügbarkeit von Pornographie mit einem „dramatischen Rückgang“ der sexuellen Gewalt korreliert.
Diese Erkenntnis hat sich in weiten Teilen der Wissenschaft durchgesetzt. Man hört heute seltener, dass Pornographie zu Vergewaltigungen führe. Verbreiteter ist dieser Tage ein anderer Gedanke, der wiederum ganz alt ist: Sex verträgt keine Freiheit, wenn man alles darf, dann hat nichts mehr den Kitzel des Verbotenen.

„Jedoch habe ich die Sünde nur durch das Gesetz erkannt. Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot.“
Paulus, Römer 7,7-7,8

Nicht nur Paulus, auch Freud hielt das Tabu für eine notwendige Voraussetzung der Sexualität. Der Reiz kann nur entstehen, wenn etwas verboten ist. Keine Zigarette schmeckt so gut wie die erste heimlich gerauchte, kein Pudding wie der nachts heimlich vor dem Kühlschrank verzehrte, kein Sex ist so leidenschaftlich wie der mit der Tochter eines rachsüchtigen Vaters. Ist das so? Müssen wir nicht von der ersten Zigarette fast alle beinahe kotzen, liegt der reingespachtelte Pudding nicht erst recht schwer im Magen und ist der heimliche Sex nicht meistens schnell und angstbesetzt und ganz ohne Vor– und Nachspiel?
Der Sex ist ein Trieb, den man nicht mit viel Aufwand teasen muss. Manchmal reicht ein Schafshintern, um ihn in Gang zu setzen. Der Gedanke, er müsse erst durch Verbote befeuert werden, ist eine Art Notwehrreaktion auf die christlichen Dogmen: „Na gut, Sex ist schmutzig, aber so muss es wohl sein, wenigstens ist er dann aufregend.“

Darüber hinaus ist Sex sowieso auch heute noch ausreichend schmutzig, denn erstens wird der Mainstream zunehmend vom Sex gereinigt (auf Youtube herrscht eine strikte Keine-Brustwarzen-Politik, die Apps für das iPad werden etwa so streng reguliert wie das saudische Staatsfernsehen) und zweitens besteht sexueller Anpassungsdruck überall. Nicht in erster Linie gesellschaftlich, aber in den verschiedenen Peergroups. So mag der Schwule sich anhören müssen, er sei spießig, wenn er Treue fordert, die Lesbe muss dagegen ihrer Partnerin treuer sein als der Papst seiner Hand, der heterosexuelle Akademiker kann nicht sagen, dass er auf schlanke Frauen mit großen Brüsten steht, und der heterosexuelle Hooligan gilt schon als schwul, wenn er niemandem nach dem Fußballspiel die Nase bricht und die heterosexuelle Frau fällt spätestens in ihrer Ehe in die traditionellen Muster zurück.
Das sind natürlich auch nur Klischees, die für den Einzelfall nicht stimmen müssen, aber es wird deutlich, dass jeder, der abweicht, schmutzig ist. (Dann könnte es für ihn ja wieder aufregend sein!) Aber er fühlt sich fehlerhaft und erfindet, dass er krank sei, sexsüchtig eben oder er macht aus einer momentanen Unlust entweder ein Syndrom oder ein Bekenntnis zur Asexualität.

Bleibt die Frage, warum wir so viel Pornos schauen und Webcam-Sex so beliebt ist. Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker führt in seinem Vortrag „Freud und Leid im Internet – eine Momentaufnahme aus psychoanalytischer Sicht“ aus, Cybersex sei „in hohem Maße narzisstisch befriedigend. Überhaupt ist das Netz ein geradezu idealer Ort um narzisstische Größenphantasien, die um die Sexualität zentriert sind, auszuleben.“

Pornographie ändert nicht die Wahrnehmung, das kann man also mit ziemlicher Sicherheit sagen. Was für uns interessanter ist: Pornographie kann einen derartigen Siegeszug doch nur starten, weil die Leute sie aus irgendeinem Grund benötigen. Für eine entspannende Masturbation im Sinne von Else Buschheuers Satz „Selbstbefriedigung ist für mich wie Yoga“ ist Pornographie natürlich großartig. Aber zunehmend wird Pornographie eingesetzt, um aus Angst vor Nähe Sex zu vermeiden.

Nicht die Pornographie macht uns lustlos, weil wir lustlos und liebesunfähig sind, greifen wir zur Pornographie. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maas sagte im Interview mit Cicero: „Wir sind eine – bezogen auf Sexualität – hysterisierte und narzisstisch beziehungsgestörte Gesellschaft. Deshalb blühen die Geschäfte mit Sex-Ersatz wie Prostitution, Pornografie und einem Sexmarkt mit „Spielzeugen“ und Potenzmitteln.“ Pornographie und Stripshows auf 9Live sind Symptom, nicht Ursache. So wie Gewaltspiele nicht Amokläufer produzieren, aber zukünftige Amokläufer im Gewaltspiel das finden, was sie im Leben vermissen, finden Narzissten in der Pornographie Ablenkung von ihrer Einsamkeit.
Pornographie ist verfügbarer, aber nicht allgegenwärtig, wie oft behauptet wird. Das abendliche Fernsehprogramm ist eher gesitteter als in meiner Jugend. Und wer auf Youporn geht und feststellt, dass da alles voller Pornos ist, der geht auch in eine Moschee und kommt zu dem Schluss, dass Vollbärte wieder in Mode sind.

Sex hat unterdessen einen Imageschaden erlitten. In „Verzichten auf“ erzählt Matthias Kalle von einer Runde junger Männer, die sich daran erinnern, wie schön es gewesen sei, mit siebzehn einfach nur zu knutschen. Einer unterbricht die Sentimentalitäten und weist darauf hin, dass heute doch wohl niemand auf die Idee käme, die Gefährtin einer Discoknutscherei danach nicht mit nach Hause zu nehmen, woraufhin die anderen über ihn herfallen. „Einer sagte zu ihm, dass der Akt des Geschlechtsverkehrs eine Sache der Oliver-Geissen-Gäste geworden sei, schließlich hätten die ständig Sex, wüssten nicht, wer der Vater welchen Kindes sei und was sie wann wie mit wem gemacht hätten. Er kam zu dem verblüffenden Schluss: `Sex ist asozial´.“ Dumm fickt gut, heißt es. Ist man also dämlich, wenn man Sex hat?
Robert Pfaller schreibt in „Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“, fast als würde er Kalle antworten, die Mittelschicht überlasse „Verführungsgebaren und erotische Explizitheit“ zunehmend aus Angst vor Verlust von Sozialprestige „der sogenannten `Unterschicht´, deren sexuelles Verhalten man in Reality-Formaten im Fernsehen als exotisch bestaunt.“
Je weiter man sich vom Sex distanziert, desto eher kann man seinen gesellschaftlichen Status sichern. Sex gibt es im Hip-Hop der Unterschicht, aber der Pop der Hamburger Schule ist keimfrei. Wollen wir wie Die Sterne sein oder wie Bushido? Na eben.

Der Text ist ein Auszug aus Frauen und Männer passen nicht zusammen – Auch nicht in der Mitte Das Copyright liegt bei der Piper Verlag GmbH.


25
Jun 11

Generation Wix (Teil 1)

„Wir steuern auf eine Masturbationsgesellschaft zu.”
Oswalt Kolle, im Interview mit Spiegel Online

Als Kabul vom Regime der Taliban befreit wurde, war in einer Reportage zu sehen, wie ein junger Mann Bilder an andere Männer verkaufte. Afghanische Pornographie. Es handelte sich um Aufnahmen, von nackten, bloßen, ganz und gar unverstellt der Kamera dargebotenen … Gesichtern.
„Pornographie ist ein Bild oder Video, an dem man nach dem Masturbieren plötzlich das Interesse verliert“, sagt der amerikanische Satiriker David Wong und liefert damit die treffendste Definition. Fetischistische Bildergalerien von Frauen, die ihre Zehen zeigen, Mädchen mit Zahnspangen, muskulösen Männern, die in Stringtangas miteinander ringen, reifen Frauen aus deiner Umgebung mit behaarten Waden, sie alle werden als Pornographie genutzt.
Obwohl Pornographie also alles mögliche sein kann, eines ist sicher: Jeder hasst Pornos. Continue reading →


6
Mai 11

Kachelmann – Die Liebe in Zeiten der Kamera

Ich saß einmal im Zuschauerraum bei einem Vergewaltigungsprozess. Ich machte damals ein Praktikum im Aachener Sozialamt. Der Angeklagte war Sozialhilfeempfänger und der junge Beamte, dem ich zugeteilt war, als Zeuge geladen. In dem Prozess ging es auch noch um Sozialhilfebetrug und Schwarzfahren, man handelte eben alles, was bei dem Mann so angefallen war, in einem Rutsch ab.

Der Angeklagte war ein schlaksiger, nervöser Typ, vielleicht 22 Jahre alt, mit einem ungepflegten Schnauz. Er hatte das Äußere und auch die Haltung eines Befehlsempfängers, und doch wirkte er gefährlich wie ein in die Enge getriebener Hund.

Er sollte seine Ex-Freundin ans Bett gefesselt und dann oral, vaginal und anal vergewaltigt haben. Über den Prozesstag hinweg stellte sich heraus, dass es sich um eines dieser unglücklich miteinander verwobenen Paare handelte, bei dem der eine dem anderen zustößt wie eine Krankheit oder ein Unfall, und der andere es hinnimmt, weil er gerade sowieso nichts vorhatte mit seinem Leben. Mal hatte er ihr eine geknallt, mal hatte sie ihn zusammenschlagen lassen, mal hatte man sich zusammen betrunken, mal gegenseitig betrogen, mal einander benutzt, mal einander dann doch gebraucht.

Das schwere Amt des Richters

Die beste Freundin der Frau wurde vom Richter befragt, ob sie von der Vergewaltigung erfahren habe. Ja, sagte die beste Freundin, sie habe da mal von gehört, auf der Toilette habe die Frau es erzählt. Ob sie das geglaubt habe, fragte der Richter. Die beste Freundin zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“
Am Ende konnte er sie nicht so gefesselt haben, wie sie es beschrieben hatte, es gab nämlich kein Bettgestell, nur eine Matratze, und so kam er frei.

Am nächsten Tag kam er entsprechend gut gelaunt ins Sozialamt, das Devote war gewichen, er war jetzt König der Welt. Er sagte uns, wir sollten mal, wenn wir das nächste Mal ausgingen, den Türstehern vom B9 seinen Namen nennen. Die würden sich einkacken. Er sei nämlich ein Austicker. Vielleicht sähe er nicht stark aus, aber wenn er austicke, dann gebe es kein Zurück. Er war ein Prachtexemplar von einem Menschen, man kann es nicht anders sagen.

Während des Prozesses hatte ich beschlossen, niemals Richter werden zu wollen. Entweder eine Vergewaltigung unbestraft lassen oder einen Unschuldigen wegsperren? Anhand von Aussagen von Zeugen, denen es gleichgültig war, ob ihre Freundin die Wahrheit sagte? Eine Welt beurteilen, in der Probleme sowieso mit den Fäusten geregelt wurden?

Keine Verurteilung für Kachelmann

Der Prozess um Jörg Kachelmann ist anders. Es soll geklärt werden, ob Kachelmann seine Ex-Freundin mit Gewalt und unter Einsatz eines Messers in der Nacht zum 9. Februar 2010 zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat, wie sie es behauptet. Hier sind alle Beteiligten höchst eloquent, niemandem ist irgendetwas gleichgültig. Man ist klug und nervenstark und schlägt einander nur mit Erlaubnis. Und doch blickt man wieder als Außenstehender darauf und kann nichts beurteilen.
Was man ja auch nicht muss.
Was man ja auch nicht sollte.

Es gibt eine Tatsache, über die wird nicht gerne berichtet, weil dann der ganze schöne Spannungsbogen, der so mühselig seit über einem Jahr gespannt wird, reißen würde. Die Tatsache lautet: Jörg Kachelmann wird nicht verurteilt werden.

Als der 3. Strafsenat des OLG Karlsruhe am 29. Juli 2010 der Haftbeschwerde Kachelmanns gegen seine seit dem 20. März andauernde Inhaftierung stattgab, begründete er das so, dass „die Fallkonstellation Aussage gegen Aussage“ vorliege, bei der Nebenklägerin „Bestrafungs- und Falschbelastungsmotive nicht ausgeschlossen werden könnten“, diese unzutreffende Angaben gemacht habe und eine „Selbstbeibringung“ der Verletzungen möglich sei.

Motive zur Lüge

Das Gericht wies also darauf hin, dass die Ex-Freundin Motive hatte zu lügen, die Verletzungen zweifelhaft waren und am Ende ihre Behauptung gegen seine Leugnung der Tat stehen würde. Zu einer anderen Einschätzung wird auch das Landgericht Mannheim nicht mehr kommen. Wenn – wie es jetzt aussieht – Ende dieses Monats das Urteil gesprochen wird, wird für den Angeklagten entschieden und Jörg Kachelmann freigesprochen werden. Zu Recht.

Hier soll es also um etwas anderes gehen. Um die mediale Grenzüberschreitung, die den Menschen ihr Ureigenstes nimmt: ihre Intimsphäre. Um die Liebe in Zeiten der Kamera.

Es gibt diesen Clip auf Youtube, in dem Jörg Kachelmann während der Wettermoderation von der Studiokatze überrascht wird. Sie streicht mit zur Begrüßung gerecktem Schwanz um seine Beine und er nimmt sie in den Arm und moderiert weiter. Der Clip, hochgeladen Anfang 2009, ist die reine Unschuld, Kachelmann ist noch bloß Kachelmann, eine Figur aus einer französischen Studentenkomödie, circa 1981, ein charmanter Taugenichts, hat was von einer Comicfigur wie dem tollpatschigen Gaston, steht einfach vor der Kamera rum und streichelt eine Katze, na, hey, du auch hier, fehlt bloß noch ein Grashalm, auf dem er rumkauen könnte.

In den Kommentaren unter dem Video ist natürlich längst die Wirklichkeit. „Und so einer soll jemanden vergewaltigt haben?“, fragt sich ChickenWing601, während SteveCrank in die Tasten tourettiert: „Hurensohn, Sado maso fetischist !!! Vergewaltiger Kinderrficker.“

Duchleuchtetes Intimleben

Nun, die Abertausend Artikel, die sich mit der Frage beschäftigen, ob er es nun getan hat oder nicht, sind nicht spurlos an den Leuten vorbeigegangen. Was nach der Verhaftung geschah und bis heute anhält, gab es vorher in Deutschland noch nie. Noch nie wurde das Intimleben eines Menschen so umfassend durchleuchtet, wurden die Details eines Lebens von einem ganzen Volk zerredet, bequatscht, verhöhnt, bis das ganze Leben selbst der Lächerlichkeit preisgegeben war. Oder doch eher: bis dem ganzen Menschen entzogen war, was nur ihm gehören soll.

Zunächst sickerte durch, dass Kachelmann weitere Freundinnen gehabt haben sollte. Dann wurden diese Freundinnen für Exklusivinterviews bezahlt. Was sie vor Gericht sagten, blieb der Öffentlichkeit verborgen, was sie also während stundenlanger Befragungen durch Meister der Befragung offenbarten – da war der Schutz des Gerichtssaals die letzte Bastion des Anstands.

Was sie aber den Gelegenheitsdenkern von der Bunten gegen reichlich Redegeld an Schmutz über den Mann, von dem sie sich enttäuscht fühlten, boten – das wurde zum Allgemeingut. Ein umfassendes psychologisches Profil schien zu entstehen. Wie er sie nannte, was er im Bett gern machte, über wen er was sagte, wie er roch, was er dachte. Erich Mielke dürfte über seine Lieblingsfußballer nicht so viel gewusst haben wie Patricia Riekel, die Bunte-Chefredakteurin, über Kachelmann zu wissen ihren Lesern vorgaukelte.

Vor Kurzem brauchte ich ein neues Bild für den Personalausweis, und während die Fotografin mich fotografierte, fing sie von Kachelmann an. Die, die am harmlosesten aussähen, erklärte sie mir, seien immer die schlimmsten. Ich versuchte, etwas böser zu schauen, um unverdächtig zu wirken.

Mafia-Logik der Bild-Zeitung

Wir schauen ab und an rüber zu den beiden Betroffenen, die zwischen ihren Gutachtern, Anwälten und Mediencoaches eingeklemmt miteinander ringen um irgendeine Form von Wahrheit und bilden uns ein, uns eine Meinung zu bilden, aber sie steht natürlich längst fest wie die von ChickenWing601 und SteveCrank. Für die Meinung von SteveCrank zuständig sind Bild und Bunte, Alice Schwarzer und Focus (und überraschenderweise auch das SZ-Magazin).

„Die gewohnheitsmäßigen und ekelerregenden Persönlichkeitsrechtsbrecher von Gnaden ihrer Herrin Friede Springer …“ Das twitterte Jörg Kachelmann am 10. April zusammen mit einem Bild, das er von einem Paparazzo, der ihn verfolgte, geschossen hatte. Hier wird jemand, bei dem das Gericht keinen dringenden Tatverdacht sieht, zur Strecke gebracht. Jemand, dem vonseiten des Rechts seine Intimsphäre zugestanden wird.

Für die Bild gilt vorgeblich das Diktum des Springer-Vorstandchefs Döpfner: „Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt mit ihr im Aufzug nach unten.“ Was heißen soll: Wer mit uns Homestorys macht, um nach oben zu kommen, der bekommt uns auch nicht aus dem Wohnzimmer, wenn die Karriere schlingert und die Frau gerade die Koffer packt. Klingt fair, ist aber bloß Mafia-Logik: ein Quid pro Quo außerhalb des geltenden Rechts. „Wir beschützen Sie jetzt, bezahlen können Sie später.“

Kachelmann jedoch ist niemals mit Springer nach oben gefahren. Über sein Privatleben war vor seiner Verhaftung nichts bekannt, er galt im Allgemeinen als Wetter-Nerd, die Basler Zeitung fragte noch kurz nach der Verhaftung, ob Kachelmanns Privatleben überhaupt existiere. Stets habe er Nichtberufliches für sich behalten, seine Ehe sei „praktisch ein Geheimnis“ gewesen. Kein Grund, ihn nicht zu vernichten.

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